Die Kultur spricht für sich

Den Gegenwartsbezug für diesen Beitrag liefern die Äusserungen Wladimir Putins über den angeblich schändlichen Umgang des Westens mit russischer Kultur. Speziell der erwähnte Name Sergej Rachmaninoff erinnert an die aufwendige Konservierung des Konzertflügels aus dessen Sommerresidenz "Senar" in Hertenstein am Vierwaldstätter See, mit welcher der Verfasser vor einigen Jahren betraut war. Dabei war es ein besonderes Anliegen, die vom Komponisten in Auftrag gegebenen Sonderwünsche - wie den eisenumsponnenen Bassbezug anstelle von Kupfer und die aussergewöhnliche Erhöhung des Spielgewichts - in unverändertem Zustand für die Nachwelt zu erhalten. Das Instrument ist gut spielbar, jedoch aufgrund der altersbedingten Materialveränderungen - wie alle anderen Instrumente solchen Alters - nicht mehr konzerttauglich. Daher wurde der Vorschlag unterbreitet, für diesen Zweck ein neues Instrument gleicher Bauart (Steinway D), mit denselben Spezifikationen auszustatten.   

Der Steinway-Flügel Sergej Rachmaninoffs in dessen Villa "Senar"

In der temperierten Stimmung des Flügels stehen zwei wesensfremde Ordnungssysteme einander gegenüber, welche als mathematisch rational und als mathematisch irrational charakterisiert werden können. So basiert die Naturtonreihe jeder einzelnen Saite auf ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz, während den Halbtonabständen-, ausgehend vom Kammerton a', der Faktor 12√2 zugrunde liegt. Einzige Gemeinsamkeit ist die sogenannte Oktav mit dem Frequenzverhältnis 2/1welche die Griechen Harmonia nannten.

Beim Stimmen wird die Absicht verfolgt, beide Systeme unangetastet nebeneinander zu stellen. Die Differenzen - resultierende Lautstärkeschwankungen - werden dabei zum Vermessen der Tonabstände herangezogen und sorgen im Vortrag für perkussive und emotive Gehaltfülle. Damit setzt sich das Pianoforte deutlich von der Orchesterstimmung ab, welche eine eigene Welt mit unterschiedlichen Tonartencharakteristiken vorführt, die ein Flügel nicht wiederzugeben vermag. Zwar existieren eine Reihe doppelt benannter Tasten (cis/des, dis/es, fis/ges, gis/as, ais/b), doch wird kein einziger der genannten Töne realiter zu Gehör gebracht. Es handelt sich hierbei um Reminder an das Ordnungssystem der Orchesterstimmung, um wenigstens gedanklich folgen zu können. Auch die übrigen Intervalle mit Ausnahme der Oktav entsprechen einander nicht präzise. Daher sind Reibungen und Verwerfungen mit der Orchesterstimmung regelrecht vorprogrammiert, welche das Vibrato der Streicher und Holzbläser kaum zu retuschieren vermag. Bislang blieb völlig unbemerkt, welche Rolle die christliche Symbolik bei alldem spielt. (vgl.Video VII: Wie die Oktav zu ihrem Namen kam.)

Es folgt der Link zu Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2, c-moll, Op. 18, gespielt von der in Kiew geborenen Pianistin Anna Fedorova im grossen Saal des Concertgebouw Amsterdam am 1. September 2013. Martin Panteleev dirigierte die Nordwestdeutsche Philharmonie.

In den ersten Akkorden werden die Schwebungen zu einem gewaltigen Grollen ins Fortissimo gesteigert, bis mit dem Einsatz des Orchesters ein ganzes Gewitter heraufzuziehen scheint. Zwar wird das Lautmalerische nicht das Bestreben Rachmaninoffs gewesen sein, doch sind die Analogien abrufbar bis hin zum Starkregen. Neben den Tönen, welche Harmonien bilden, sorgen die begleitenden beats (ital. battimenti, Schläge) für die intendierte Erschütterung und im weiteren Verlauf, wo sie ausbleiben, für Entspannung und die Möglichkeit, befreit aufzuatmen - Lichtblicke gewissermassen. Die Musik geht mit gutem Beispiel voran, wenn es um die besondere Wertschätzung des Unterschiedlichen geht. Mit Monotonie wäre die Gefühlswelt auch nicht zu beeindrucken. Der Flügel Sergej Rachmaninoffs lässt die Absicht erkennen, die Kontraste auf die Spitze zu treiben.    

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Was immer sich in der Ukraine derzeit gerade abspielt: 

Das Verhalten einer machtbesessenen Minderheit darf keinen Einfluss auf die Wertschätzung einer Nation haben. 

© Aurelius Belz 2022