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18.08.2017

B10 Die Wiederentdeckung eines Weltkulturerbes

Zum Greifen nah und doch so fern!

Die Zahl der Organisten, Pianisten, Klavierspieler und Keyboard-User geht weltweit in die Millionen und gänzlich unzählbar sind die Stunden, die Menschen an Klaviaturen verbringen oder verbracht haben, sei es im Dialog mit sich selbst oder mit anderen. Musik entführt in eine eigene Welt und wer hat nicht schon das Glück erlebt, jene Harmonie innerlich zu erfahren, die im Alltag allzu leicht abhanden kommt. Je schlechter es den Menschen geht, umso grösser ist die Sehnsucht nach ihr.

Was jedoch an historischer Überlieferung und christlicher Symbolik in der Klaviatur steckt, davon haben selbst die Hersteller derselben keine Kenntnis, und unterrichtet wird der Stoff an den Schulen überhaupt nicht. Die Rede ist vom christlichen Symbolbezug und vom ethischen Gehalt der abendländischen Harmonielehre.

Vor wenigen Jahren brachte eine Trinitätsdarstellung auf einem spätmittelalterlichen Tasteninstrument den Verfasser auf die Spur. Die fertige Studie – versehen mit einem Geleitwort des Pontificio Istituto di Musica Sacra - wurde Benedikt XVI vorgelegt, der umgehend bestätigte, dass die abendländische Musik „ihren Quellort in der Liturgie“ habe und für ihn persönlich sogar einen „Wahrheitsbeweis des Christentums“ darstelle. So geschehen in Castel Gandolfo am 04. Juli 2015.

Verfechter einer Autonomie der Künste mögen damit Mühe haben, doch warum eigentlich? Wir alle kennen die Zeitrechnung ab Christi Geburt und die Einteilung der Wochentage in Analogie zur Schöpfungsgeschichte. Das gehört zu unserem historischen Hintergrund und ist Teil unserer Identität. Darf die Musik daran keinen Anteil haben?

Anstatt an dieser Stelle einen musiktheoretischen Exkurs zu beginnen, vergegenwärtigen wir uns jene Bilder, welche Theologen im Kopf hatten, als sie sich mit den musikbezogenen Überlieferungen der Griechen auseinandersetzten. Vor allem Pythagoras lehrt uns, dass die Kenntnis des Teiltonaufbaus einer schwingenden Saite als bekannt gelten durfte, d.h. die naturgesetzliche Gegebenheit - die Symmetrie der Saitenschwingung - ist als solche ohne menschlichen Einfluss zunächst einmal vorhanden. Interessant ist jedoch, wie man die Töne benannte und anordnete. Hierfür ist die Kenntnis der nachfolgenden Bibelstellen von ausschlaggebender Bedeutung. Da wäre zunächst einmal:

Der Traum des Jakob

Physikalisch betrachtet gibt es gar keine „hohen“ und „tiefen“ Töne, lediglich mehr oder weniger schnelle Schwingungen. Der Begriff Tonleiter ist bereits der Analogie zur Hl. Schrift zu verdanken, denn Jakob sah in seinem Traum vor sich eine Leiter, die bis in den Himmel hinauf ragte, und auf dieser Leiter sah er Engel hinauf- und hinabsteigen. Nach Aurelius Augustinus sind es die Sieben Gaben des Hl. Geistes, über die der Mensch zu Gott gelangt, entsprechend den 7 Tonsilben Ut, Re, Mi, Fa, So, La und Si.

Doch hier sind wir bereits ein wenig zu rasch voran geschritten, denn im Hebräischen Urtext ist bei Jesaja nur von sechs Gaben des Hl. Geistes die Rede: von der Furcht Gottes, der Nächstenliebe, der Tapferkeit, der Barmherzigkeit, der Feindesliebe und der Weisheit. Doch durch das zweimalige Vorkommen der „Furcht Gottes“ finden wir einmal die Übersetzung „Gottesfurcht“, ein andermal die „Frömmigkeit“, wodurch sich die Zahl von sechs auf sieben erhöhte. Bis in das Spätmittelalter hinein finden wir sowohl Bezüge auf die Zahl 6 als auch Bezüge auf die Zahl 7, wenn von den Gaben des Hl. Geistes die Rede ist. In musikalischer Betrachtung ist das deshalb wichtig, weil Guido von Arezzo (*um 992-†1050) die Hexatonik (6Tönigkeit) entwickelte und sich die Solmisationssilben zu seiner Zeit auf Ut, Re, Mi, Fa, So und La beschränkten. Hierbei handelt es sich um die Anfangssilben des Johannes- Hymnus, an die später das SI für Sancte Ioannes angehängt wurde:

Ut queant laxis

Resonare fibris

Mira gestorum

Famuli tuorum

 Solve pulluti

Labii reatum

Sancte Ioannes

Wörtlich: „Mögen die Schüler mit lockeren Stimmbändern die Wunder Deiner Taten besingen. Löse die Schuld der befleckten Lippe, Hl. Johannes“. Johannes der Täufer war Schutzpatron der Kirchenmusik, bis die Hl. Cäcilia ihn ablöste. Die Sechsstufigkeit hatte jedoch keinen Einfluss auf die Bezeichnung Oktav, da der Begriff für den 2.Teilton – neben der Prim der Inbegriff der Konsonanz - gewissermassen reserviert war. 

Die Bergpredigt

Damit haben wir die Symbolik der weissen Tasten schon einmal verstanden. Gleichgültig, ob wir Buchstaben verwenden – im engl. Sprachraum kennt man noch das durchgehende A, B, C, D, E, F, G – oder die lateinische Durchnummerierung der Tonabstände: Prim, Sekund, Terz, Quart, Quint, Sext, Septim und Oktav. Wir haben ein Ordnungssystem vor uns, das nur einen einzigen kleinen Schönheitsfehler aufweist: Die Oktav besteht aus 5 Ganzton- und zwei Halbtonschritten und in mathematischer Lesart ergeben 5 Ganze und zwei Halbe 6. Genau daran ist zu erkennen, wie wichtig der Erhalt der Zahl 8 (lat. Oktav) war. Und daran sollte sich auch später nichts ändern, als aufgrund musikalischer Erfordernisse zusätzliche Töne eingefügt werden mussten. Die theologische Bedeutung der Zahl ist auf die Bergpredigt zurückzuführen, denn dort sind die acht Seligkeiten aufgelistet. Die Kunstwissenschaft vermag zahlreiche visuelle Beispiele hierfür vorzulegen, u.a. die den 8 Kirchentönen gewidmeten Kapitelle der Abtei Cluny. Auch Guido von Arezzo verweist auf die Verbindung der Tonarten zu den 8 Seligkeiten. Die Nähe Gottes stellt das angestrebte Ziel dar, welches über die Jakobsleiter erreicht werden kann. 

Bei jenen Tönen, die später hinzugefügt werden mussten, handelt es sich um die schwarzen Tasten. Die Rede ist nun von Chromatik (altgr. χρῶμα chrṓma, Farbe) da die neu hinzu gefügten Töne lediglich als „Verfärbungen“ der vorhandenen Stammtöne betrachtet wurden. Und plötzlich wird klar, warum es eine „Kleine und Grosse Sekund“ geben musste (wörtl. eine kleine und grosse Zwei), ebenso eine „Kleine und Grosse Terz“ (wörtl. eine kleine und grosse Drei) usw. damit sich am bedeutenden Bezug der Oktav zur Seligkeit und zur Konsonanz nichts ändert. Rein akustisch betrachtet wäre es völlig irrelevant, wie das Intervall heisst, welches wir Oktav nennen. Gemäss Teiltonaufbau steht es im Frequenzverhältnis von 2:1 zur Prim. Es in 8 Teile geteilt sehen zu wollen ist ein mutwilliger menschengemachter Vorgang.

Das letzte Abendmahl

Nun haben wir also jene komplette Klaviatur vor uns, wie wir sie heute kennen, mit 8 weissen und 5 schwarzen Tasten pro Oktav - insgesamt also 13 – jedoch mit nur 12 Tonbezeichnungen, weil der 1. und letzte Ton jeder Oktav den gleichen Namen tragen - entsprechend den Worten des Messias: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.“ Folgerichtig gelangte das C wie Christus in den Zenit des Quintenzirkels.

Nebenbei bemerkt war das 13-Knoten Seil - ein zum Kreis geknüpftes Seil mit 12 Knoten in gleichmässigen Abständen - ein unverzichtbares Werkzeug im Kathedralbau. Und die 13-minus-1-Symbolik bezieht sich auf die Teilnehmer beim letzten Abendmahl minus Judas, den Verräter. Daher wird die 13 noch heute bei den Hotelzimmertüren in Abzug gebracht, um den Gast nicht an den Verrat und die grausamen Folgen zu erinnern. Daher gilt Freitag, der 13. als Unglückstag, weil die Kreuzigung an einem Freitag erfolgte, dessen wir uns am Karfreitag erinnern. Die Kombination der 13 mit dem Freitag war im Volksglauben mit geradezu doppeltem Unglück verbunden.

Mathematisch führt die 13 minus 1 zur 12 – entsprechend dem o.g. Konstruktionswerkzeug im Kathedralbau und entsprechend dem Zifferblatt der Uhr, welches die 12 Stunden des Tages und der Nacht anzeigt. Die 12 Monate des Jahres verweisen auf die kosmische Dimension. Das katholische Weltbild lässt allerorten die Corporate Identity des Weltherstellers erkennbar werden. Da bildet die Musik – der 12teilige Quintenzirkel - keine Ausnahme. Es ist ein sehr passender Umstand, dass die europäische Flagge diese Symbolik aufgreift, in der die Sterne den Himmel der Nacht- und die azurblaue Farbe den Himmel des Tages verkörpern.

Jüngste Laser-Vermessungen an einer Schwesterkathedrale von Montecassino ergaben, dass sich der Grundriss an der Schrittfolge der Kirchentonart Tetrardus plagalis orientierte – an jener Tonart also, die für den Jubel als Ausdruck der Freude über die Auferstehung bestimmt war. Wie alle Kathedralen ist das Gebäude zum Sonnenaufgang - zur täglichen Auferstehung - hin ausgerichtet, gemäss den Worten des Messias: „Ich bin das Licht der Welt.“ Licht und Schall wurden demnach als gleichrangige didaktische Beispiele herangezogen, um auf die Unbegreifbarkeit der Existenz Gottes aufmerksam zu machen. Licht und Schall kann man beide nicht anfassen, aber sie existieren doch, so der Gedanke.

Die Offenbarung des Johannes

Zeitgenössische Abbildungen verraten, welche Bilder für den Quintenzirkel Pate gestanden haben. Es sind Weltgerichtsdarstellungen, welche Christus auf einem zum Kreis geschlossenen Regenbogen zeigen. Wer sich zum Kreuz bekennt gelangt hinauf, mit dem Vorzeichen b fällt man hinab. Die Dissonanz - in extremer Form jene des Tritonus und der Kleinen Sekund - wurde als Diabolus in Musica bezeichnet. Demnach ist die Offenbarung des Johannes zum Verständnis heranzuziehen, und dort lesen wir zudem vom Himmlischen Jerusalem - jener Stadt mit 12 Toren - und schon werden die auf zahlreichen Orgeln zu findenden Sinnsprüche als konkrete Feststellungen verstanden: MUSICA PRAELUDIUM VITAM AETERNAM oder in schlichterer Version: MUSICA DONUM DEI.

Wer nun meint, damit sei bereits alles erklärt, dürfte sich täuschen, denn die Entwicklung blieb nicht stehen und die Musiker verlangten weitere Töne in innerhalb einer Oktav. Einerseits ist dies bereits erkennbar an der Doppelbenennung der schwarzen Tasten: Cis/Des oder Fis/Ges, andererseits geben Schriftquellen darüber Auskunft, dass die Musiker weitaus mehr Tasten pro Oktav forderten.

Die Tatsache, dass man trotz eingeschränkter musikalischer Brauchbarkeit an der gegebenen Tastenanordnung festhielt, belegt die aussermusikalische Einflussnahme und so entspann sich ein über mehrere hundert Jahre währender Gelehrtenstreit um die angemessene Stimmung. So gesehen haben wir das Wohltemperierte Klavier und alle nachfolgenden Kompositionen eines Mozart, Schumann, Schubert, Beethoven, Brahms und wie sie alle heissen, dem beharrlichen Festhalten an der Tastenteilung zu verdanken. Im Mittelalter hätte man reine Intervalle bevorzugt und die temperierte Stimmung als Kompromiss mit der Dissonanz und damit als Pakt mit dem Teufel von sich gewiesen. Umgekehrt dürfte wenig Freude haben, wer ein Chopin-Prélude in mitteltöniger Stimmung spielt.

Geblieben sind die Prim und Oktav als konsonante und reine Intervalle, die Töne dazwischen sind gleichmässig aufgeteilt. Von einem Ton zum anderen gelangt man über den Faktor 12√2, und dieser Faktor hat keinen nachweisbaren Bibelbezug mehr.

Das abendländische Tonsystem hatte früher eine geografische Grenze am Bosporus. Heute kennt und schätzt man auch türkische, japanische und chinesische Pianistinnen und Pianisten. Es dürfte kein Land der Welt mehr geben, in dem nicht irgendjemand mittels Klaviatur nach dem Glück greift. 

Das Pfingstwunder

Aus christlicher Sicht hat das Pfingstwunder damit vor aller Augen stattgefunden – wir erinnern uns an die Aussendung des Hl. Geistes und daran, dass die 12 Apostel begannen, in allen Sprachen zu reden. Musik ist eine Sprache, die von allen Menschen verstanden wird, deren Symbolik auch auf das Pfingstwunder Bezug nimmt und die nichts anderes als Harmonie und Weltfrieden zum Ziel hat. Das gewaltige Wort Feindesliebe rückt diesen Frieden in greifbare Nähe.                                                                                                                     © 2017 Aurelius Belz