Das Fundstück

Auf unserem Globus stehen zwei Lebensprinzipen einander gegenüber, welche mit geografischen Grenzziehungen nicht separiert werden können. Sie begegnen uns auch als zweierlei Naturen in ein- und demselben Menschen.

Dominant und sich stets selbst verherrlichend ist das strategische Denken. Für das Alpha-Tier kommt nur Leadership infrage. Schon in KMU’s ist von strategic management die Rede. Es funktioniert und die Erfolge geben recht, solange die Kollateralschäden am anderen Ende der Welt nicht berücksichtigt werden müssen. Erst in globaler Betrachtung wird vollends sichtbar, was aus dem Ruder gelaufen ist, denn Strategie klammert aus und nimmt das Eigeninteresse in den Fokus - so auch beim Konsumenten. Steuerhinterziehung, Plastikmüll, Ausbeutung, Abholzung, Artensterben, Klimawandel, Kinderarbeit, Menschenhandel und Kriege beschreiben das ganze Ausmass der Rücksichtslosigkeit. Von einem Erfolgsmodell können nur jene sprechen, die das Positive abschöpfen und dem Rest der Welt den Schaden überlassen.

Was uns im Laufe der Evolution an die Spitze der Nahrungskette gebracht hat, richtet sich, nachdem wir dort angekommen sind, offenbar gegen uns selbst: "lupus est homo homini" - Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen. Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.).

Dem gegenüber gibt es ein passgenaues Gegenstück, das synergetische Handeln, es ist ebenso planvoll, doch antistrategisch, kooperativ, friedenstiftend und nachhaltig. Die gute Nachricht: es funktioniert, die schlechte: es findet oft erst Beachtung, nachdem das strategische Vorgehen in die Katastrophe führte. In Nachkriegszeiten sind die schlechten Erfahrungen noch präsent und es ist gemeinsame Wiederaufbauarbeit zu leisten. 

Das in der Musik versteckte und vergessene Kulturerbe – der ethische und symbolische Gehalt der abendländischen Harmonielehre– verkörpert dieses Gegenstück in reinster Form. Schon der von einer Gottheit (altgriechich Ἁρμονία, Harmonia, Göttin der Eintracht) hergeleitete Name weist auf einen ethischen Bezug, den bereits die Griechen herstellten, denn ohne Übereinstimmung ist an synergetisches Zusammenwirken nicht zu denken. Ohne vorausgehende Stimmung keine Musik, die ihren Zauber erst durch Harmonie entfaltet. In jeder Klavier-, Orgel- und Orchesterstimmung sind solch grundlegende Einsichten - wie auch jene des Pythagoras (um 570 v. Chr - nach 510 v. Chr.) - enthalten.

Die Frühchristen legten die Beobachtungen monotheistisch aus und reicherten unser Tonsystem bis zum Überquellen mit Symbolik und konkreten Bibelbezügen an, wozu es erforderlich war, die griechischen Bezeichnungen abzuändern. Neben den Kirchentonarten sind enthalten, resp. kirchlicherseits hineininterpretiert worden: das A und Ω, die Jakobsleiter, die 7 Gaben des Hl. Geistes, die 8 Seligkeiten, der Johannes-Hymnus, Verrat, Tod, Auferstehung, das Weltgericht sowie das Himmlische Jerusalem. Das alles wartete über 200 Jahre auf seine Wiederentdeckung. Dem Fundstück und seiner Kontextualisierung ist die vorliegende Page gewidmet.

An dieser Stelle ist bedeutsam, neben der Kulturgeschichte und Theologie auch den Gegenwartsbezug des ethischen Gehalts zu betrachten. Seine Grössenordnung wird annähernd erahnbar, wenn wir einmal versuchen, die Ausgaben für Rüstungsgüter inklusive der mit ihnen verursachten Zerstörungen und Folgeschäden allein in den letzten 100 Jahren zu beziffern. Eine Auflistung der Kriege findet sich auf Wikipedia. Was hätte mit diesen Steuermitteln an anderer Stelle alles bewirkt werden können? Und wie veranschlagen wir in einer solchen Rechnung das menschliche Leid und all die geraubten Lebensjahre? Hinzu kommt die aktuelle Bedrohungslage. Wie gross ist das Vernichtungspotential der Atomwaffen und wie prekär der Zustand unseres Planeten? Das alles sind Folgen strategischen Denkens. 

Wenn es also etwas gibt, das in der Lage wäre, die Menschheit aus dieser Misere zu befreien, so wäre es mit derselben Wertigkeit zu veranschlagen. So etwas gibt es und nennt sich Synergie. Die älteren Bezeichnungen hierfür waren Harmonia oder in christlicher Lesart: Feindesliebe. Die Abkunft vom Göttlichen weist sowohl bei den Griechen als auch bei den Christen - MUSICA DONUM DEI - auf eine Wertschätzung hin, die höher nicht sein kann.

Genau genommen hätte es jedoch HARMONIA DONUM DEI lauten müssen, weil die Göttin der Sache ihren Namen gab. Nur verbot sich dies, weil der Polytheismus den Christen verhasst war - der seinerseits die Gräuel in der Arena nicht zu verhindern vermochte. Bereits hier kommen Intoleranz und menschliches Unvermögen zum Ausdruck. Friedliches Zusammenleben ist etwas, das manche Menschen fast gar nicht-, andere wiederum sehr wohl vermögen, nur benötigen sie hierfür keine Macht. Mit Nationalitäten, Religionen, Hautfarben oder anderen vorgeschobenen Gründen hat das nichts zu tun. Selbstkritische Ursachenforschung zu betreiben, Einflussfaktoren aufzuzeigen und zivilisatorischen Fortschritt anzustreben wird die Menschheit als ihre wichtigste Aufgabe zu erkennen haben, denn mit Aufrüsten ist das Problem nicht angegangen, lediglich die Vernichtungseffizienz auf den neuesten Stand gebracht und die Natur missachtet.

Die Bedrohungslage erfordert einen Paradigmenwechsel, denn nichts von alldem wird noch eine Rolle spielen, wenn wir am Ende unserer Geschichtsschreibung angekommen sind.  

Noch sind wir anwesend und haben es in der Hand.

Siehe auch Blog C6: "Auslese, Erziehung, Selektion. Die Gesellschaft und ihre Kinder"   

© Aurelius Belz 2022

 

Anm.: Das im Eckbild vorgestellte Clavichord trägt ein Gemälde mit der Seeschlacht von Lepanto, die 1571 mit dem Sieg der Heiligen Liga über das Osmanische Reich endete. Vor dem Hintergrund der christlichen Harmonielehre und der 10 Gebote ein Ausdruck ethischen Versagens. Die Intention der Auftraggeber war jedoch, mit dem Gemälde an den "Sieg des Christentums" zu erinnern, um sich im Frieden der Nachkriegszeit wieder der Musikausübung-, und damit dem eigenen Weltbild - der akustischen Jakobsleiter - zuwenden zu können. Bis zum heutigen Tag treffen sich die Angehörigen der an der Schlacht beteiligten Adelsfamilien zum Jahrtag im Vatikan. Somit spiegeln sowohl der Brauch als auch das Instrument - welches möglicherweise einer jener Familien zugeordnet werden kann - die oben angesprochenen zweierlei Naturen des Menschen wider. Aufgrund dieser menschlichen Beschaffenheit vermochte sich die Kirche ungeachtet der Glaubensinhalte zu einem gewaltigen Machtinstrument zu entwickeln. Musée de la Musique, Paris