Erlebnisqualität

Im Rahmen der Erforschung der Kulturgeschichte der Tasteninstrumente trat die christliche Symbolik des abendländischen Tonsystems zutage, die ihrerseits Teil des katholischen Weltbildes ist. 

Die hierdurch erst möglich gewordene Vervollständigung dieses Weltbildes hat eine direkte Auswirkung auf die Erlebnisqualität, insbesondere christlicher Sakralbauten, in denen Musik nicht mehr nur als inhaltsfremdes Dekorum wahrgenommen werden kann, sondern als integraler Bestandteil der Kulthandlung und des liturgischen Ablaufs. Mehr noch: Die immaterielle Jakobsleiter zur Seligkeit - die darum so genannte "Tonleiter" - führt das Wahrwerden eines konkreten biblischen Inhalts illusionistisch vor und weist auf einen innigen Zusammenhang zwischen imaginärem-, immateriellem und materiellem Kulturgut. Verbindendes Element ist die katholische Theologie mit ihren zahlreichen symbolischen Bezügen. Wie von der Kanzel-, so soll auch von der Orgelempore nur Gottgefälliges zu hören sein - so der Gedanke. Damit ist ein Rahmen vorgegeben, den die einzelnen musikalischen Beiträge mit Inhalten füllen - Kirchenlieder, Kantaten und Choräle auch mit eigenen Texten. (vgl. Blog C3: "Das Credo Johann Sebastian Bachs in Bild und Ton." sowie Blog C4 "Pythagoreische Stimmung oder Gründungsmythos der abendländischen Musik?" )

In der abendländisch-sakralen Kunst kommt die Harmonielehre gattungs- und epochenübergreifend zu ganzheitlicher Anwendung, denn die Künste-, welche genauso wie die Töne von sich aus rein gar nichts miteinander zu tun haben wollen, sprechen dort dieselbe Sprache. Das ist kein Zufall - und der kirchliche Einfluss reicht weit in den Profanbereich hinein. In beiden Fällen sind externe Brückenbauer für das Zusammenwirken verantwortlich: im akustischen Bereich zeigt sich dies im geschaffenen Ordnungsgefüge der Interferenzen, den Stimmungen. Bei den Künsten sorgen Sujet, Symbolik und Ästhetik, Komposition, Form, Farbe und Perspektive für Übereinstimmung. Die Erkenntnisse der Musik greifen auf die Kunst über, als ob Sichtbarkeit nur eine andere Erscheinungsform des Hörbaren sei. Auch solches geschieht nicht von selbst.

In der Gesamtbetrachtung ist das Abendland mit Kulturgütern ausgestattet, die mit der angesprochenen circumlocutio-, dem weltanschaulichen Zirkelschluss, und natürlich mit dem zugrunde liegenden Glaubensbekenntnis unmittelbar zu tun haben. Vgl. den Menüpunkt: "Kirchliches Umfeld". Besucher aus anderen Kulturen erkennen diese Besonderheit als kontinentaltypisch.

Die Orgel - und hier sind wir für einen Moment wieder bei den Tasteninstrumenten - ist demnach als eigenständiges Verbindungselement zum Göttlichen zu betrachten, weshalb sie nicht selten auch gestalterische Gemeinsamkeiten mit dem Altar aufweist wie z.B. bemalte Orgelflügel. Das nachfolgend abgebildete Orgelpositiv stellt den Traum des Jakob von einer Himmelsleiter-, auf welcher Engel auf- und niedersteigen, im Sockelbereich abbildlich vor. Der Sinnspruch über der Tastatur lautet: "Alles was Odem hat lobe den Herrn, rühmet und preiset ihn ewiglich, Halleluja". Die musizierenden Engel auf den Orgelflügeln weisen auf die gedankliche Verbindung zwischen Jakobsleiter und Tonleiter. 

Orgelpositiv, Adam Ernst Reichard (1670-1756) zugeschrieben, Händelhaus, Halle. Zur Vergrösserung bitte auf die Abbildung klicken.

Die Verbindung der Musik mit der Sakralarchitektur ist mit derselben Bibelstelle begründet, heisst es doch: "Jakob erwachte aus seinem Schlafe und sprach: 'Fürwahr, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht!' Er ängstigte sich und sprach: 'Wie schauerlich ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus; und hier ist des Himmels Pforte.' "  1 Mos 28,16

St. Nikolai, Stralsund, Westportal

St. Nikolai, Stralsund, Westportal, Tympanon, Schriftfeld

Durch die Deutung der Tonleiter als Jakobsleiter wurde die Musik zu einem jener Elemente, welche den Sakralraum seiner Bestimmung zuführen. Daher ist die Musik mit all' ihren seitens der Theologie gegebenen Bezügen in diesen Räumen mitzudenken, wie überhaupt die geistige Präsenz eines Weltbildes erforderlich ist, um Kulturgüter zu verstehen, die ihm ihre Existenz verdanken.   

Kuppel der Kapelle des Jean Forget in der Kathedrale von Toul mit Bezug zu den 8 Seligkeiten, den 8 himmlischen Sphären und zur Oktav - dem Inbegriff der Konsonanz und des akustischen Friedens (vgl. Video VII: "Wie die Oktav zu ihrem Namen kam")  -  zudem mit Reminiszenzen an das Pantheon in Rom. Speziell dieser antike Bau hat die architektonische Zentrierung des Lichtes vorweggenommen. Daher nimmt es nicht Wunder, dass ihn die Christen kurzerhand in eine Kirche umwandelten.  

Kuppel des Pantheon, Rom

In gleicher Weise wurde die antike Harmonielehre umgedeutet und in den Dienst der Kirche gestellt.

Nur eine polydisziplinäre Betrachtung wird durch ihre analytischen Rückschlüsse derartigen Gesamtkunstwerken gerecht. Die starke Wirkung synergetisch kalkulierter Sinneseindrücke findet auf diese Weise eine kausale Erklärung.

Der rationale Zugang deckt auf, dass speziell in der christlichen Harmonielehre - sehr im Unterschied zum griechischen Vorbild - mathematisch haarsträubende Konstruktionen hingenommen wurden, um die corporate identity des Weltherstellers auch im Bereich der Tonkunst aufzeigen zu können. Im emotionalen Bereich sind genau diese Vorgänge für eine einmalige Erlebnisqualität verantwortlich, denn sie evozieren die Vorstellung, dass sämtliche Erscheinungsformen ihre Existenz tatsächlich ein- und demselben Schöpfer verdanken. Auf diese Weise prädisponiert abendländisch-sakrale Kunst und macht für den monotheistischen Glauben empfänglich. Die Psyche der Gläubigen erkennt in ihr ein seelisches Zuhause, gestützt durch Joh. 14,2 "In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen".

Kulturen entstehen aus dem menschlichen Bedürfnis nach seelischer Beheimatung.

© Aurelius Belz 2022