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03.05.2021

C2 Wie die Oktav zu ihrem Namen kam

Anmerkungen zur Präsentation VII gleichen Titels

    

Wie Dinge benannt werden verrät manchmal schon viel über die Betrachtungsweise oder das Weltbild desjenigen, der den Namen auswählt. Am Beispiel der Passionsblume (Passiflora incarnata) ist klar zu sehen, dass Nicolas Monardes (*1493-†1588) das christliche Weltbild inkl. der damals verbreiteten Symbolik in seinem Erfahrungsschatz mit sich trug und dass ihn jene Pflanze – ein Neuankömmling aus der Neuen Welt - an das Martyrium Christi erinnerte. Die problemlose Annahme seiner Sichtweise belegt, dass seine Zeitgenossen gar nicht anders dachten und so finden sich in Büchern zur Botanik sogar Abbildungen, welche die Passionsblume mit Kreuznägeln, Dornenkrone und Lanzenspitze zeigen. Heute würde ein solches Vorgehen als unwissenschaftlich verworfen. Eine Namensnennung aufgrund derartiger Analogieübertragungen wäre indiskutabel, noch dazu mit einer bewussten Fälschung der abbildlichen Darstellung.

               

Jean Franeau, Jardin d'hyver ou cabinet des fleurs, Douai 1616

Vergleichbares ereignete sich rund 1000 Jahre früher, als Christen mit Hilfe des Monochords das Schwingungsverhalten der Saite studierten und hierfür antikes Schriftgut heranzogen. Auch sie sahen, was sie sahen - und hörten, was sie hörten - nur vor ihrem eigenen Bildungshintergrund, und dieser bestand zu einem grossen Teil aus einer gründlichen Kenntnis der Hl. Schrift.

Dabei ist das Erlebnis der Konsonanz auch heute noch nachvollziehbar. Die akustische Verschmelzung gleicher Töne (Prim) ebenso wie das Hörerlebnis zweier Saiten, von denen eine mit doppelter Frequenz erklingt (Oktav). Geringste Abweichungen werden als unangenehm und unsauber empfunden, weil sich Interferenzen bilden, welche als belästigende Lautstärkeschwankungen wahrgenommen werden. Wird die Tonhöhe jedoch sauber getroffen, werden Prim und Oktav als überraschend angenehme Ereignisse empfunden. Und das Hörerlebnis hat geradezu medizinischen- und seelisch heilenden Charakter, denn es verkörpert die Auflösung aller Spannungen und das Ende jeglicher Unruhe. Die allermeisten Menschen – vor allem empathiefähige – berührt das und bringt sie nicht selten gar zum Weinen. Es sind Tränen des Glücks, weil Harmonie auf der Welt Seltenheitswert hat und nun ist sie zum Greifen nah und kommt so zärtlich daher. Das Erlebnis gleicht einem Blick ins Paradies. Beim Stimmen kündigt sich die Annäherung an die Konsonanz durch eine Abnahme der Schwebungen an. Ist Übereinstimmung erreicht, spricht man von reinen Intervallen. Konsonanz ist pure Schönheit. 

Doch die Frequenzverdopplung mit dem Namen Oktav zu belegen, muss aus heutiger Sicht merkwürdig anmuten, und es ist nach dem Grund dafür zu fragen, wie es dazu kam. Die Denkweise bezüglich der symbolischen Bezugnahme auf die Hl. Schrift wurde bereits an anderer Stelle dargelegt und am Beispiel der Passionsblume beschrieben. Warum sollte sie nicht ebenso im akustischen Bereich stattgefunden haben?

Ziehen wir zeitgenössische Schriftquellen heran, wie z.B. das Buch über die Musik von Aurelius Augustinus, so muss seine Interpretation der Konsonanz bereits zu denken geben, denn die totale Verschmelzung bringt er in Zusammenhang mit liebster Liebe. Und von diesem Superlativ zum Göttlichen überzugehen ist kein grosser Schritt: Die Wiederholung ein- und desselben sowie die Verschmelzung begegnen uns in der Trinität, wo Vater, Sohn und Hl. Geist wohl noch getrennt beschrieben-, aber als Gotteserfahrung nur gesamthaft wahrgenommen werden können. Gott steht am Anfang aller Dinge – Primus, der Erste, auch.

Bei der Oktav geht es um die Acht – und die begegnet uns in zahlreichen Kunstwerken, welche auf die acht Seligkeiten der Bergpredigt Bezug nehmen. Betrachtet man nun beides zusammen, so steht die Prim für den Anfang (A) und die Oktav für das Ende (Ω), womit beides allerhöchsten Stellenwert erhält. Gottesvorstellung und Musikwahrnehmung verschmelzen miteinander. Eine höhere Wertschätzung kann der Musik gar nicht entgegen gebracht werden.

Wenige Beispiele sakraler Kunst-, ein Altar in Besançon oder die Kapitelle in Cluny belegen, dass die Zahlen als solche dieselbe Wertschätzung erfuhren und das man sie mit dem Tonmaterial in Verbindung brachte. Weiterführende und bestätigende Hinweise erhalten wir durch die achteckige Form von Taufbecken, denn nur über das Sakrament der Taufe war es möglich, zur Seligkeit zu gelangen. Ebenso ist die Achteckigkeit der Reichskrone bemerkenswert, da sie allein für Herrscher von Gottes Gnaden bestimmt war, die ihrerseits mit achteckigen Repräsentationsbauten auf ihre himmlische Legitimation aufmerksam machten. Wenn es also um Gottesnähe geht, kommt man im Abendland um das Jahr 1000 an der Zahl 8 nicht vorbei. Die grosse Anzahl an achteckigen Glockentürmen und Kanzeln ist hier natürlich mit einzubeziehen.  

Alles Übrige erklärt sich als Folgeerscheinung. Die Einfügung einer Kleinen und Grossen Sekund (wörtl.: einer kleinen und grossen Zwei) und einer Kleinen und Grossen Terz (wörtl.: einer kleinen und grossen Drei) entspricht weder mathematischem- noch logischem Denken, höchstens insofern, als mit einer Umbenennung der Oktav das zugrunde liegende Gedankengebäude in sich zusammenfallen würde. Gleiches gilt für die Feststellung, dass eine Oktav aus fünf Ganztonschritten und zwei Halbtonschritten besteht - die Mathematik jedoch lehrt, dass fünf Ganze und zwei Halbe sechs ergeben.   

Beide Beobachtungen ergänzen und bestätigen einander, denn jede mutwillige Bezugnahme muss zu einer deutlichen Störung in sich stimmiger Zusammenhänge führen. In der Abbildung der Passiflora erscheint die Dornenkrone genau deshalb wie ein Fremdkörper, weil es sich um einen solchen handelt. Daher mangelt es der Darstellung an Glaubwürdigkeit, was sich durch den Vergleich mit dem Original leicht bestätigen lässt.

                   Passiflora Incarnata

Ausblick auf die künftige Forschung:   

Bezüglich der Analyse symbolischer Feinstrukturen erlauben die vorgelegten Ergebnisse logische Schlussfolgerungen im Sinne eines Weiterdenkens nach erkanntem Muster. In den sieben Tonschritten zur Oktav die Sieben Gaben des Hl. Geistes zu erkennen ist demnach nicht abwegig, ebenso wenig die Analogie zur Jakobsleiter. Beides ergibt sich inhaltlich geradezu von selbst. Gewiss bedarf es weiterhin auch schriftlicher Belege - und bereits Augustinus beschreibt die Sieben Gaben des Hl. Geistes als Stufen auf dem Wege zu Gott. Dass darüber hinaus jedem einzelnen Ton eine bestimmte Bedeutung zukam, ist aufgrund der Beschriftung der Kapitelle von Cluny nahe liegend und es bietet sich an, die liturgischen Farben in Analogie zu betrachten, da auch sie nur für bestimmte Anlässe vorgesehen waren. Hierbei ist durchaus auch mit regionaltypischen Besonderheiten zu rechnen. 

Auch musikalisch ergibt sich eine neue Betrachtungsebene, denn der so genannte Leitton (oder Strebeton) strebt nicht nach Auflösung sondern nach Erlösung - führt er doch zur Acht und damit zur Seligkeit.   

Im Allgemeinen ermöglichen die vorgelegten Ergebnisse eine grössere Aufgeschlossenheit für die Gestaltungsanalyse von Kathedralen und Kreuzgängen. Verwiesen sei insbesondere auf die Ausführungen Giovanni Acciais zur Kathedrale von Sessa Aurunca, in deren Grundriss er die Schrittfolge der Kirchentonart tetrardus plagalis erkannte, sowie auf die Studien von Rainer Straub mit den Titeln "Die singenden Steine von Moissac" und "Die singenden Steine von Monreale" in denen er auf markante Parallelen zwischen plastischer Kapitellgestaltung und bestimmten anlassgebundenen Chorgesängen hinwies. Darüber hinaus liefert die Aufdeckung dieser gewaltigen symbolischen Bezugnahme eine Fundamentierung für jede Art musikalisch-theologischer Analyse. Symbolik, eingesetzt z.B. von Johann Sebastian Bach, erweist sich fortan nicht mehr als individuelle Projektion. Sie steht im Kontinuum einer Tradition von mehr als 1000 Jahren. 

Hinsichtlich der Methodik wird mehr als deutlich, dass der Bildungshorizont der Entstehungszeit den Schlüssel zum Verständnis bietet - und das macht polydisziplinäres Vorgehen unverzichtbar. Als Beispiel seien volkskundliche Untersuchungen zum religiösen Brauchtum genannt. Freitag, der 13. ist heute noch jedem ein Begriff. Weniger selbstverständlich ist aber, dass ein klarer Bezug existiert zu den 13 Teilnehmern beim letzten Abendmahl minus Judas sowie zum Karfreitag. Beide Unglücksereignisse - Verrat und Tod - zusammen genommen führen in der Denkart des Mittelalters gewiss zu nichts Gutem. Umgekehrt finden wir die Hoffnung auf ein gutes Gelingen in dem Brauch, an jeden bedeutenden Anfang ein Christuszeichen zu setzen. Schon die Zählung der Wochentage begann mit dem dies dominicus, dem Tag des Herrn. Im Instrumentenbau finden wir nummerierte Mechanikteile, die 1 dabei ersetzt durch ein Kreuz. Im klösterlichen Leben sollte ein eigenes Gebet, die Prim, den Arbeitsbeginn sowie den Tagesanfang heiligen. Nur in einer Zusammenschau der Disziplinen wird der grosse Sinnzusammenhang offenbar.       

Zweierlei Sichtweisen:   

Gehen wir zur Bewertung über, gilt es, zu unterscheiden: Wird Symbolik im Sinne eines Gleichnisses verstanden wie am Beispiel des Lichts in der Hl. Schrift vorgegeben „Ich bin das Licht der Welt“ handelt es sich um ein Glaubensbekenntnis. Will man aber Überzeugungsarbeit leisten - missionieren oder bekehren -, ist die willkürliche Bezugnahme als Instrumentalisierung des Phänomens der Konsonanz beschreibbar. Gewiss: Wer die Schöpfung als Gottes Werk betrachtet, für den muss schlichtweg alles auf den Welthersteller Bezug nehmen. Der Umkehrschluss: Wir stellen einen Bezug her also sollten auch alle anderen Menschen von den Glaubensinhalten überzeugt sein, funktioniert nicht. Was aber funktioniert ist der emotionale Eindruck der abendländischen Musik, und der macht viele Zeitgenossen zu Kirchgängern, die allein wegen der Predigt nicht kämen. Aus säkularisierter Sicht ist sakrale Musik - wie sakrale Architektur auch - ein Marketing-Tool mit psychogener Wirkung. Für den spirituell orientierten Menschen öffnet sie den Weg zur Offenbarung, weil er hinter den Sinneseindrücken das Göttliche vermutet. Erst kürzlich formulierte Benedikt XVI: "In der Begegnung mit dem Gott, der uns in der Liturgie in Jesus Christus begegnet, ist die große und reine Antwort der abendländischen Musik gewachsen. Sie ist für mich ein Wahrheitsbeweis des Christentums." Genau so hört sich ein persönliches Glaubensbekenntnis an. 

Die beiden vorgestellten Sichtweisen sind alles andere als neu: Im Zusammenspiel von Musik und Architektur - sei es in gotischen Kathedralen oder Barockkirchen - sind "Inszenierungen" mit Offenbarungscharakter zu beobachten, und genau daher rührt die Bezeichnung theatrum sacrum. Viele haben die übermächtige Prachtenfaltung angeprangert - Bilderstürmer und Protestanten - wobei letztere auf architektonischem Sektor zurückhaltender auftraten, der Musikpflege jedoch durchaus Beachtung schenkten. 

Es bedeutet ein letztes Stück Aufklärung, von den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen Kenntnis zu erlangen und vereinfacht den Zugang für jeden, der sich für abendländische Kunst interessiert. Das katholische Weltbild hat seinen Namen nicht umsonst. Was allumfassend verstanden werden will, schlägt sich auch in allem nieder. Der konstante Bezug auf die Hl. Schrift führt zu einem starken Beheimatungsgefühl und Thomas van Kempen(*um 1380-†1471) bestärkte es sehr in seinem Glauben, da er schrieb "Wem alles das Eine ist, wer alles auf das Eine bezieht und alles in dem Einen schaut, dessen Herz kann festen Stand haben und  dauernd im Frieden Gottes leben" (De imitatione Christi, Kap. III 6,2).

Im Zusammenhang mit den gegenwärtig geführten Debatten über die Akzeptanz religiöser Symbole ist feststellenswert, dass vielleicht nicht die ganze abendländische Musik-, aber auf jeden Fall das Tonsystem aus dem sie hervorgegangen ist, als höchst eindrucksvoller akustischer Sakralraum beschrieben werden kann, von dem die Klaviatur einen visuellen Eindruck vermittelt. Bei einem Tonumfang von 88 Tasten sorgen beim Klavier - bei der Orgel sind es noch einige mehr - 76 rein gestimmte Oktaven über alle Tonarten hinweg für strukturgebende Konsonanz.                                                                                                                                                             © Aurelius Belz, 2017