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01.12.2017

B11 Was Sie ihren musikliebenden Kindern ...

... vielleicht gar nicht sagen möchten:

 

Was mathematisch oder physikalisch keine Grösse einnimmt, wird üblicherweise mit dem Wert Null beziffert. Ein Intervall mit dem Abstand Null heisst jedoch Prim, da die Null erst recht spät - d.h. nach 1200 - aus dem arabischen Raum nach Europa gelangte. 

Seitdem vergleichen Musiker einen einzelnen Ton mit sich selbst und stellen Übereinstimmungen fest. Sie nennen das Konsonanz.

Test: Fotografiere einen Stuhl 2-mal von derselben Stelle aus und vergleiche dann die Fotos. Erstaunlich: Die Lehne ist gleich und das rechte Bein hat eine Beschädigung an genau derselben Stelle. Fazit: Immer wenn man etwas mit sich selbst vergleicht wird man Identisches feststellen.

Nun zähle bis 8. In der Mathematik hast du es mit Grössen und Abständen zu tun, in der Musik mit Ganzton- und Halbtonschritten. Fünf Ganztonschritte und zwei Halbtonschritte führen zur Oktav. In der Mathematik bräuchtest du fünf Ganze und sechs Halbe, um bei der Acht anzukommen. Aber das macht erst mal nichts. Den Grund dafür wirst du gleich selbst entdecken.  

Jener Ton, auf den du mit Erreichen der Oktav dann triffst, hat dieselbe Buchstabenbezeichnung wie der Ausgangston, weil beide einander verwandt sind. Die Gleichnamigkeit soll nämlich die Ähnlichkeit zum Ausdruck bringen, als ob sie gar keinen Abstand zueinander hätten und in Wirklichkeit miteinander verschmolzen seien. Es ist, als würde sich ein Kreis schliessen und Anfang und Ende in eins fallen.   

Mathematisch gesehen wurde die Frequenz des ersten Tones verdoppelt. Zwei ist zweimal die Eins. Dass zweimal dasselbe einander ähnlich ist, brauche ich jetzt wohl nicht noch einmal zu erklären. Und die Ähnlichkeit kann man nicht nur errechnen, man kann sie hören – und man würde sie auch schmecken, wenn man 2x dasselbe oder doppelt so viel davon ässe. Also reden wir auch hier wieder von Konsonanz? Musiker tun das und die Hörer sind entzückt. 

Nun tritt ein Theologe hinzu und findet das alles sehr aufschlussreich. Die 1 (Prim, die eigentlich eine Null ist) erinnert ihn an den Anfang aller Dinge, die 8, (Oktav, die eigentlich eine Sechs sein müsste) an die 8 Seligkeiten der Bergpredigt (die ihrerseits eigentlich neun sein müssten, weil die dort erwähnten Jünger nicht hinzu gezählt wurden, als ob sie die Seligkeit gar nicht verdient hätten, vgl. Mt. 5, 3-12). Und alles ist vollkommen dem A und Ω entsprechend, göttlich eben - ganz gewiss - nur nicht die Rechnung.

Aber vielleicht war ja auch alles umgekehrt: Ein Theologe wollte den Zusammenhang mit der Hl. Schrift herstellen und konstruierte die Tonreihe nach seinem Weltbild. Auf diese Weise konnte der Mönch Guido von Arezzo (*992-†1050), vielleicht aber auch schon einige Klosterbrüder vor ihm, Ansehen bei ihren Vorgesetzten gewinnen. Es musste nur immer so aussehen als hätten die Alten vor ihnen das auch schon so darlegen wollen. Das verleiht dem Ganzen Ehrwürdigkeit und Bedeutung. Dieser mentalen Kettenreaktion - der Kontinuität der Frömmigkeit - ist zu verdanken, dass wir ein nach theologischen Bedürfnissen massgeschneidertes Tonsystem vor uns haben. Jede historische Schicht weist ihre eigenen Bezüge auf.    

Guido von Arezzo und Bischof Theodaldo diskutieren am Monochord, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Wien, Codex Lat. 51, fo35v, 12. Jahrhundert

Nun hör' genau hin: Es gibt brauchbare Gelehrsamkeit und unbrauchbare. Selbst Fake News werden gerne aufgegriffen, wenn sie strategisch verwertbar sind. Die Konstantinische Schenkung war z.B. sehr nützlich für die Kirche, obwohl es sich um eine Fälschung handelte. Der Wert der Wahrheit wird nicht geschätzt, wenn sie nicht irgend einem Vorteil dient. Oftmals wird sie daher zur Untermauerung eigener Ansichten zurecht gebogen. Auch gibt es zahlreiche unbequeme Wahrheiten. Die mag keiner. Eine davon ist die, dass das christliche Weltbild, von dem hier die Rede ist, über Jahrhunderte mit grausamsten Mitteln verteidigt wurde und der Index noch die harmloseste Variante darstellte, sich unbequemen Gedankengutes zu entledigen. Wer allein nach Wahrheit strebt und zu wenig an sich selbst denkt, tritt einen Leidensweg an. 

Dennoch ging es den Theologen um etwas Wichtiges. Sie sahen das Gleichnis in der Musik, das Denkmodell, das didaktische Hilfsmittel. Sie hörten die Konsonanz genauso gleichnishaft wie sie das Licht sahen. Sie stellten sich vor, dass eine höhere Macht, die uns geschaffen hat, jenseits unserer Sinneswahrnehmung existiert - dass sie gleich hinter unseren schönsten Eindrücken - hinter dem Licht und der Konsonanz - anfängt und hofften darauf, dass manchmal ein klein wenig Göttlichkeit hindurchschimmern würde - wie das Licht durch ein Kirchenfenster. Deshalb sind Theologen noch keine Sonnenanbeter. Jeder der etwas beschreiben will, was er nicht direkt zeigen kann, muss auf Analogien oder Gleichnisse zurückgreifen. Deshalb ist unsere Kulturgeschichte derart angefüllt mit religiöser Symbolik, dass man manchmal vor lauter Engeln den Himmel kaum sehen kann.   

Nehmen wir z.B. die Wochentage: Früher begann man die Zählung mit dem Sonntag, dem Tag des Herrn (dies dominicus). Nur so ist zu verstehen, was Guido von Arezzo schreibt: "Denn wie wir nach Ablauf von sieben Tagen dieselben von vorne wieder anfangen, so daß wir den ersten und den achten Tag stets als denselben benennen, ebenso bezeichnen und benennen wir die ersten und achten Töne stets mit demselben Buchstaben, weil wir fühlen, daß sie in natürlicher Harmonie in einen Ton zusammenstimmen, wie z.B. D und d." Klarer lassen sich die Zusammenhänge innerhalb des christlichen Weltbildes kaum darlegen und es versteht sich, dass sie auch hinsichtlich der Betrachtung des Kosmos eine Rolle spielten, Stichwort: Sphärenharmonie. 

Nicole Oresme, Livre du ciel e du monde 1377

Mit einer wissenschaftlichen Betrachtung oder einer akustischen Erkundung der Naturtonreihe hat dies nichts zu tun. Die Guidonische Teilung ist daher keine Stimmung sondern ein theologischer Traum, in dem es gelingt, mit sieben vorhandenen Wochentagen bis zum achten - den ersten doppelt - zu zählen und die Zahl der acht auserwählten Töne durch Doppelbenennung - gleiche Bezeichnung für Prim und Oktav - auf sieben zu reduzieren. Nur so ist es möglich, beides miteinander in Beziehung zu setzen. Was allein zählt ist die Vorstellung von einer göttlichen Ordnung in allen Dingen, gem. Weisheit 11,21: "Du aber hast alles nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet." sowie die Kongruenz mit Johannes 22,13 "Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende". Bemerkenswert ist erneut die Bedeutung der Zahl acht, die für Gottesnähe steht und die mit der Sonne, dem Tag des Herrn sowie mit der Konsonanz in Verbindung gebracht wird. Obwohl Guido von Arezzo auf Pythagoras Bezug nimmt hat er etwas Neues und theologisch Fundamentiertes geschaffen, das der griechischen Vorgeschichte nichts verdankt. Deshalb trägt die sogenannte pythagoräische Stimmung ihren Namen nicht zu Recht, denn Pythagoras (*um 570 v. Chr - †510 v. Chr.) konnte vom Weltbild eines Guido von Arezzo noch keine Kenntnis haben. Die Zuordnung der Urheberschaft erfolgte bewusst Antike-orientiert, was sich sogar noch bei Glarean (*1488-†1563) aufzeigen lässt.    

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn das Vorkommen der Zahl 8 in liturgischen Gesängen besonders intensiv wahrgenommen werden kann. Die Zahl sei von einem Zauber, der "in der symbolischen Vision der Welt an Magie grenzt", schreibt Giacomo Baroffio, ein ausgewiesener Kenner der Gregorianik und beklagt die daraus resultierende melodische Eingeschränktheit im Vergleich zur arabischen Musik.  

Und als wolle uns Guido von Arezzo in die Denkweise seiner Zeit einführen, vergisst er nicht, auch auf das Vorkommen der Zahl 8 in den 8 Redeteilen hinzuweisen, heisst es doch im Prolog des Johannes-Evangeliums 1,1: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Dieses war im Anfang bei Gott." Wir lernen daraus: Gottesnähe ist um das Jahr 1000 unbedingt mit der Zahl 8 in Verbindung zu bringen. Daher mag selbst die als Zeichen der Unendlichkeit verwendete liegende Acht (), eingeführt vom Mathematiker und königlichen Kaplan John Wallis (*1616-†1703), noch auf den verbreiteten Symbolbezug zurückzuführen sein. Weitere Beispiele finden sich in der Präsentation: "Wie die Oktav zu ihrem Namen kam".

Auf dieser Page werden die christliche Symbolik sowie der ethische Gehalt der abendländischen Harmonielehre nach Jahrhunderten des Vergessens erstmals wiedererkannt und wertschätzend vorgestellt. Der Ethik geht es nicht um die Bevorzugung einer Glaubensrichtung, sondern schlicht um das funktionierende Zusammenleben. Daher sprechen wir von Harmonie unter den Tönen und von Harmonie unter den Menschen. Diese Harmonie ist nicht selbstverständlich - sie hat vielmehr Seltenheitswert. Viele Menschen, vor allem aber jene, welche infolge Ungerechtigkeit leiden, sehnen sich nach ihr - völlig gleichgültig, welchem Kulturkreis sie angehören.   

So, nun weisst du Bescheid und brauchst dich über die Unlogik unseres Tonsystems nicht mehr zu wundern. Sofern du es Dritten erklärst, wirst du allerdings nicht nur Freunde um dich haben - Stichwort: ungeliebte Wahrheit. Dann gilt es, sachliche Kritik von blanker Polemik zu unterscheiden.  

Die Musikwissenschaft glaubt ja bis heute, unser Tonsystem käme von den Griechen. Die Griechen konnten allerdings gut rechnen.

© 2017 Aurelius Belz