B12 Symbole
Dieser Betrachtung liegt das Anliegen zugrunde, etwas Unlogisches verstehen zu wollen. Damit ist von vornherein klar, dass der Nachvollzug mit rationalen Mitteln allenfalls partiell gelingen kann und wir bereits in Fragen der Definition Spielräume zu gewähren haben.
In der Kindheit vollzieht sich das Lernen im Spiel, durch Ausprobieren und Kombinieren, in der Simultanität des Verschiedenen. Und ob gewollt oder nicht, Begleiter sind stets Emotionen, welche zeitgleich durchlebt werden: Hunger, Furcht, Glück, Müdigkeit … Die Gründe dafür sind unbekannt und auch nicht interessant, denn Gefühle sind in der kindlichen Wahrnehmung schlichtweg erlebte Tatsachen.
Aus alldem ergibt sich eine Konditionierung durch Wiederholung. Dabei stehen wir vor einer riesigen Menge unsystematisierter Erlebnisse. Davon greifen wir nun völlig willkürlich einige heraus: Das Schlaflied, die ersten Worte, das Verbrennen der Finger am heissen Bügeleisen, das Zuhause, der Weg zur Schule, die Landschaft, das Klima … und schon hat Beheimatung stattgefunden. Jahrzehnte später, nach langem Auslandsaufenthalt, wird jedes einzelne Element exakt wiedererkannt, und es genügt eine feine Geruchswahrnehmung, um Filmsequenzen der Kindheit erneut ablaufen zu lassen. Wir haben keine andere Kindheit, nur diese eine. Daher sprechen wir von Prägung und von Identität.
Vor diesem Hintergrund werden Verlinkungen verständlich, obschon sie der kausalen Grundlage entbehren. Es genügt allein, dass zeitgleich etwas wahrgenommen und durchlebt wurde, was es auch immer sei. Beispiele systematisieren zu wollen erweist sich daher als sinnlos. Eher scheint es ratsam, einzelne herauszugreifen, um deren non-kausale Vernetzung zu betrachten. Darin sehen wir wie in einer Mammografie der Erinnerungen, wie das menschliche Hirn funktioniert, und daraus ergibt sich von selbst, dass wir eine Vollständigkeit der Darlegung unmöglich erwarten können.
Verfolgen wir den Prozess des Erwachsenwerdens. Die Schule lehrt uns, Kausalität von Nicht-Kausalität zu unterscheiden, Gründe für das Vorhandensein von Gefühlen zu benennen und gibt damit Werkzeuge an die Hand, sich in der Welt zurecht zu finden. Zeitgleich werden die Grenzen der Kausalität sichtbar, denn es gibt einen Bereich, hinter den sie nicht blicken kann. Gemeint ist das Jenseits und was nach dem Tode kommt. Es besteht kein Zweifel, dass der Tod jeden Menschen existenziell trifft. Daher ergeben sich Fragen und unterschiedliche Kulturen geben unterschiedliche Antworten.
Die Welt der Zeichen und Symbole lässt sich demzufolge in zwei Bereiche unterteilen. Da gibt es die lebenspraktischen Zeichen: Buchstaben, Zahlen, Verkehrsschilder, deren Bedeutung wir lernen. Sie leisten einen Beitrag zum sicheren Zurechtfinden in der Welt, auch wenn chinesische Schriftzeichen völlig anders aussehen als russische. Hier gilt es dann, sich durch einen weiteren Lernprozess an andere Gegebenheiten zu gewöhnen. Dieser Vorgang mag mühsam sein, doch wird er in der Regel als sinnvoll erachtet. Ist die fremde Sprache einmal erlernt, hat zeitgleich noch etwas anderes stattgefunden: Es wurden Emotionen transportiert. Dadurch wird das Fremde vertraut und es ist geradezu ein zweiter Beheimatungsprozess erlebbar. Daher sprechen manche Auswanderer auch von einer “zweiten Heimat“, weil man nun weiss, „wie der Hase läuft“ oder im Englischen: „which way the cat jumps“. Lebenspraktische Symbole und Zeichen verbinden ihre Nutzer, da sie sich kollektiv auf deren Verwendung geeinigt haben. Dieser Vorgang ist als Integration zu bezeichnen.
Der zweite Bereich ist dorthin orientiert, wo nur Gleichnisse, Analogien und Symbole noch imstande sind, etwas Unbegreifbares mitteilbar zu machen. Bekannterweise gibt es zahlreiche unterschiedliche Auffassungen sogar in ein- und derselben geografischen Region. Symbole werden zum Zeichen der Gesinnung - und Gesinnungen: dazu zählen weltanschauliche-, religiöse- und politische Auffassungen, sind rational nicht greifbar. Zwar stützt sich jede Auffassung auf Argumente, doch haben diese keinen allgemeingültigen Charakter, sind Ansichtssache – womit sich der Kreis schliesst. Identität in diesem Punkt entspräche einer Gleichschaltung. Der Erhalt der Meinungsfreiheit ist allein abhängig von der Einigung auf Gewaltverzicht. Sowohl in globaler- als auch in regionaler Betrachtung leben wir in einer Welt der Parallelgesellschaften.
Betrachten wir im Folgenden zwei bekannte Symbole der europäischen Geschichte: Die Hostie und das Hakenkreuz.
Die Hostie
Oblaten werden üblicherweise als Unterlage für Backwaren verwendet. Lebensmittelchemiker listen ihren Nährstoffgehalt auf, den Vitamin-, den Eisen- und Magnesiumgehalt. Ihre papierähnliche Konsistenz erlaubt die Aufprägung von Schriftzeichen und Bildern. Daher werden sie auch als Siegeloblaten verwendet. Weihnachtsoblaten zeigen religiöse Motive. Die Hostie hingegen kann plan sein, kreisrund ist sie wegen der Bezugnahme auf den Ausspruch Jesu: „Ich bin der Anfang und das Ende“ (Off. 22,12) sowie aufgrund der Analogie zur Sonne: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh. 8,12). Hinsichtlich einer möglichen Prägung existieren zahlreiche Varianten, z.B. das Chi-Rho, das A und Ω oder das Zeichen des Kreuzes. Nach der erfolgten Transsubstantiation im liturgischen Ablauf ist die Oblate nach Auffassung der Gläubigen nicht mehr, was sie vorher war. Es hat eine Wandlung stattgefunden. Die konsekrierten (geweihten) Hostien werden daher üblicherweise in einem Ziborium verwahrt und im Tabernakel verschlossen. Dies ist ein Ort stiller Anbetung. Die Wertschätzung gilt nun nicht mehr der Oblate als solcher, sondern dem Leib Christi, den sie fortan verkörpert. Hostienfrevel wurde zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert mit schweren Strafen belegt und mancherorts andersgläubigen-, meist jüdischen Mitbürgern unterschoben, um einen Vorwand für deren Vertreibung und Tötung zu liefern.
Das Hakenkreuz
Das Hakenkreuz taucht einmal als Ornament auf, als Svastika = Glücksbringer, als Heilszeichen, ein andermal als Symbol des Nationalsozialismus. Dabei erfolgte die Wahl nicht zufällig, auch nicht die Richtung der im Uhrzeigersinn von den Kreuzbalken ausgehenden Haken. Durch die Neigung auf 45° wurde es aus seiner statischen Ruhe gebracht und erhielt eine dynamische Komponente. Auch dieses Symbol war mit weihevollen Handlungen verbunden, über deren Inhalt der Text des Fahneneides von 1934 Auskunft gibt: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“ Die öffentliche Wertschätzung sollte durch den Fahnengruss gezeigt werden, womit gemeint war, dass man bei vorbei getragener Fahne zumindest die Kopfbedeckung abzunehmen hatte und seine Gesinnungszugehörigkeit mit dem Hitlergruss dokumentierte.
In beiden Fällen sind sich die Symbole als solche-, die Hostie und das Hakenkreuz, selbst keiner Identität bewusst – sie wird ihnen von Menschen verliehen und die jeweilige Bedeutung steht in einem komplexen Kontext. Dass die Kontexte Ähnlichkeiten zueinander aufweisen ist historisch durch das Gottesgnadentum begründet, welches Gott mit den jeweiligen Machthabern in Verbindung brachte. Daher trägt die Reichskrone neben dem Abbild Christi die Beschriftung: „Per me reges regnant“, was bedeutet: „Durch mich (Christus) regieren die Könige.“
Der Grund, warum auf die Beschaffenheit und Wirkung von Symbolen im Rahmen kulturwissenschaftlicher Betrachtungen besonders eingegangen werden muss, liegt darin, dass den Geisteswissenschaften die Aufgabe zukommt, über die verschiedenen Modi des Denkens Auskunft zu geben. In Zusammenarbeit mit der Psychologie kann damit ein wichtiger Beitrag für die Gesellschaft geleistet werden. Dabei ist beachtenswert, dass die Wissenschaft bestrebt sein muss, sich im Modus der Beschreibung aufzuhalten. Von einer persönlichen Parteinahme oder Wertung ist Abstand zu nehmen, was jedoch nicht als Ignoranz gegenüber erlittenen Schicksalen missverstanden werden darf. Die Intention ist allein die, Denkmuster verstehen zu wollen. Dahin führt ein disziplinierter Arbeitsvorgang. So gesehen erscheinen Meinungen als vorschnelle Vorwegnahme der Erkenntnis.
Dass schwarze Katzen Unglück brächten, dass sie zum Symbol wurden für Magie und Hexerei, ist eine solche-, nicht hinterfragte Auffassung. Das Einfache daran: Das Okkulte bedarf keiner Begründung und weicht ihr aus. Es hantiert mit Ängsten, Traumata, Mutmassungen und Assoziationen – so steht Schwarz für Dunkelheit, Unsicherheit und Angst – und ist genau dort wirksam, wo das Licht der Erkenntnis nicht hingelangt. Geheimnisse werden durch ihre Aufdeckung langweilig, denn sie verlieren ihre Identität – sind plötzlich keine Geheimnisse mehr. Die kindliche Angst vor dem Gespenst weicht, sobald der eigene Grossvater unter dem Bettlaken erkannt wurde. Im Erwachsenenalter wird aus Spiel bitterer Ernst, denn Täuschung ist ein wichtiger Teil strategischen Denkens.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich zweierlei Sichtweisen hinsichtlich der Akzeptanz religiöser Symbole in Klassenzimmern:
Die ständige, auch unbewusste Wahrnehmung, beispielswiese eines Kreuzes, hat suggestive Wirkung und sei es nur der „Input“, das Christus bei allem was geschieht, zugegen sei. Der Austausch durch das Werbeplakat einer Spielzeugfirma würde aus gleichem Grunde als Schleichwerbung angeprangert. Dem gegenüber beansprucht eine leere Wand kein Interesse und lenkt nicht ab. Der Lehrbetrieb soll, wie die Wissenschaft auch, nicht Partei ergreifen sondern Verständnis fördern. Zudem werden Schülerinnen und Schüler aus anderen Kulturkreisen nicht unnötig mit einem fremden Weltbild konfrontiert.
Befürworter können für sich in Anspruch nehmen, auf eine 2000jährige Tradition zurückzublicken, die in zahlreichen Dingen ihren Niederschlag gefunden hat. Und finge man mit der Entfernung der Kreuze an – wo hörte man konsequenterweise auf? Wäre der Musikunterricht angesichts der komplexen christlichen Symbolik des abendländischen Tonsystems noch akzeptabel? Wäre Glockengeläut hinzunehmen, die Einteilung der Wochentage in Analogie zur Schöpfungsgeschichte oder die Zeitrechnung ab Christi Geburt? Wenn zur Realität auch unsere regionale Vergangenheit gehört, sollte es gestattet sein, dies auch zum Ausdruck zu bringen, denn ohne Geschichte ist Gegenwart nicht zu verstehen.
Nehmen wir daraufhin etwas Abstand und hinterfragen die Fragestellung: Die Frage zielt polarisierend auf eine Ja-Nein-Entscheidung: Akzeptieren von religiösen Symbolen oder nicht, und setzt sich über die Kompetenz der Lehrkräfte hinweg, die selbstverständlich darum bemüht sind, fremden Schülerinnen und Schülern eine Brücke zu bauen. Warum sollten sie z.B. nicht auf die Idee kommen, einen Zuwanderer mit dem Symbol seiner kulturellen Identität nicht nur zu begrüssen, sondern anzunehmen? Manche gehen die Sache an, in dem sie schlicht die Fotos der Schüler an die Wand hängen, die somit für ihre eigene Identität stehen. So lernen alle, dass sie nicht allein auf der Welt sind, und die Eliminierung sowohl des Eigenen als auch des Fremden keine Lösung sein kann. Die Geschichte ist übervoll an Beispielen.
Die Frage unterstellt in geradezu schildbürgerlicher Manier, dass mit dem Zeigen oder Entfernen eines Symbols ein Schritt in Richtung Problemlösung unternommen werden könnte. Gewiss, wenn man einmal alle schwarzen Katzen vergiftet hat, kann einem keine mehr über den Weg laufen. Dabei erhitzt die Debatte die Gemüter, obschon der Weg zum interkulturellen Verständnis nur auf dem Weg der Selbstbeherrschung beschritten werden kann. Grundsätzlich gilt, dass die Polarisierung vom Kompromiss am allerweitesten entfernt ist. Wozu also polarisieren, wenn man auch aufeinander zugehen- und Gemeinsamkeiten im Umgang mit Symbolen entdecken kann? Dabei wird man am Beispiel der Harmonielehre auf beeindruckende Weisheit stossen, doch schon in unmittelbarer Nähe auf blankes menschliches Versagen. Allein mit der Besinnung auf die Feindesliebe als eine der Sieben Gaben des Hl. Geistes, hätte es bereits die Kreuzzüge gar nicht geben dürfen.
Seit geraumer Zeit geraten auch Kraftfahrzeug-Kennzeichen in den Verdacht, Träger verschlüsselter Botschaften zu sein. So erging bereits im Jahr 2000 vom deutschen Bundesverkehrsministerium eine Empfehlung an die Bundesländer, Kombinationen, die als Hinweis auf nationalsozialistische Organisationen oder Einrichtungen betrachtet werden könnten, wie "HJ", "SS", "SA", "KZ" oder "NS" nicht zu verwenden, wodurch der Begriff "Kennzeichen" vom Fahrzeug auf die Gesinnung des Fahrers übertragen würde.
Dabei geraten sogar die 1 und die 8 in den Verdacht, auf den ersten und achten Buchstaben im Alphabet "A" und "H" und somit auf Adolf Hitler hinzuweisen. In der christlichen Harmonielehre steht die 1 für die Prim und die 8 für die Oktav aufgrund der acht Seligkeiten der Bergpredigt. Als Inbegriffe der Konsonanz wurden sie gleichgesetzt mit dem A und dem Ω. Bereits im Alten Testament ist von der Heiligung des Tempels am 1. und 8. Tage die Rede (2 Chr. 29,17). Wie leicht man sich doch täuschen kann!
Symbole sind Spiegel des Menschen, Kurzfassungen dessen, was in Büchern ausführlich beschrieben wurde. Man kann Bücher lesen oder auch nicht. Manche halten es für nötig, sie zu verbrennen. Man kann Spiegel aufhängen und man könnte sie zerschlagen, um sich nicht mehr darin erkennen zu müssen, doch auf die eigene Schönheit oder Hässlichkeit hätte das keinen Einfluss.
© 2018 Aurelius Belz