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27.07.2018

B16 Was wurde aus der christlichen Symbolik der abendländischen Harmonielehre?

Bereits in der Zeit der Reformation gingen die Meinungen auseinander: Während Huldrych Zwingli (*1484-†1521) die Orgelmusik und den Kirchengesang aus dem Gottesdienst völlig verbannte, stellte Johannes Calvin (*1509-1564) speziell an die Kirchenmusik besonders hohe Anforderungen, da der Gottesdienst vor dem Angesicht Gottes und seiner Engel stattfände.

Auch Martin Luther (*1483-†1546) schätzte die Musik und äusserte in einer seiner Tischreden: „Der schönsten und herrlichsten Gaben Gottes eine ist die Musica. Der Teufel erharret ihrer nicht. Die Noten machen den Text lebendig. Sie verjagt den Geist der Traurigkeit, wie man am Könige Saul siehet.“ (M. Luther, WA Tr 1, 490, Nr. 968).

Auch in Johann Heinrich Buttstett (*1666-†1727) finden wir einen Verteidiger der göttlichen Abkunft der Musik. Seine Abhandlung „Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, tota Musica et Harmonia Aeterna“, erschienen 1717,  steht in der Folge des Jesuiten Athanasius Kircher (*1602-†1680), der das katholische Weltbild in der Zeit der Gegenreformation noch einmal zusammenfassend dargestellt hatte. Allein der Vergleich der Frontispizien macht das deutlich:

                        

Athanasius Kircher: Musurgia Universalis 1650. Unten links: Pythagoras auf die Schmiede deutend, ihm gegenüber Minerva als Beschützerin der Künste und Erfinderin des modernen Instrumentariums, darüber Apollon musagetes auf der Weltkugel mit den Attributen der Lyra und der Panflöte, an seinen Wettstreit mit dem Hirtengott Pan erinnernd - im Himmel das göttliche Dreieck, die Dreifaltigkeit darstellend, umgeben von Engeln. Zwei Cherumbim tragen ein Schriftband: "Canon Angelicus 36 [triginta sex (12x3)] vocum ... in 9 [novem (3x3)] choros distributus" und damit den Hinweis auf ein Werk Romano Michelis, in welchem 3x das Wort Sanctus wiederholt wird. Im göttlichen Dreieck selbst ist dreimal die Zahl 9 (je 3x3) zu erkennen sowie das Auge Gottes, in der Mitte des Schriftbandes unter den Noten des genannten Werks 3x das Wort Sanctus. Darüber hinaus weist die Abb. zahlreiche weitere Details und Symbolbezüge auf.

                       

Johann Heinrich Buttstett: "Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, tota Musica et Harmonia Aeterna", 1717. Das Titelkupfer zeigt einen Davidstern mit drei hebräischen Jod, die Personen der Dreifaltigkeit repräsentierend, umgeben von Engeln, welche je einen Stern im Haar tragen. Auf dem von zwei Engeln gehaltenen Schriftband der Hinweis auf Hiob 38: "Wo warest du, da mich die Morgensterne lobeten und alle Kinder Gottes jauchzeten?" Die Silben Ut-Mi-Sol stehen für den Durdreiklang, die Silben Re-Fa-La für den Molldreiklang, womit ein akustisches Analogon zum Davidstern hergestellt wurde. Die Verbindung des Dreiklangs mit der Trinität erfolgte unerwartet spät und findet sich wohl zuerst bei Cyriacus Schneegass (*1546-†1597). 

           

Der Davidstern begegnet uns ansonsten auch in Form von Resonanzbodenrosetten, z.b. an einem Cembalo Perticis aus dem Jahr 1681, darunter eine anonyme Dreifaltigkeitsdarstellung (links) sowie eine Trinitätsdarstellung von Johann Heinrich Silbermann 1776. Ihrer Anzahl und dem Aufwand ihrer Herstellung nach belegen solche Rosetten, welche in zahlreichen Varianten auf die Hl. Schrift Bezug nehmen, eine ungebrochene spirituelle Ausrichtung seit Henri Arnaut de Zwolle (*um1400-†1466).

Buttstett ist seinerseits jedoch nicht gegenreformatorisch orientiert sondern richtet sich gegen das freigeistige aufklärerische Denken seines Zeitgenossen John Toland (*1670-†1722). Dieser hatte mit Bezug auf John Locke (*1632-†1704) dargelegt, dass das Christentum mit menschlicher Vernunft zu erfassen sei, woraufhin sein Werk 1697 in Dublin öffentlich verbrannt wurde, was Toland dazu veranlasste, nach London zu fliehen. Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Buchtitel Buttstetts zu sehen: „Vernünftige Gedanken über die Geheimnisse der Christen und insonderheit über das Geheimnis der Heiligen Dreyeinigkeit" (1735), „Vernünftige Gedanken über die Natur Gottes“ (1736). Die Titel legen den Gedanken nahe, dass er sich an den Werken des Philosophen Christian Wolff (*1679-†1754) orientierte.  

Zeitgleich wendet sich Buttstett gegen Johann Mattheson (*1681-†1764), der die Ansicht vertrat, Musik habe nicht allein die Aufgabe, zur Ehre Gottes zu erklingen – SOLI DEO GLORIA – sondern den Menschen zu gefallen und sie auch zum Tanz zu bewegen – ganz in Anlehnung an den galanten Stil Frankreichs.

Nicht die Reformation hat also zu einer Verweltlichung der Musik geführt, sondern die Aufklärung mit der Folge der Zertrümmerung des mittelalterlichen Weltbildes, in dem die Musik eine zentrale Bedeutung innehatte, weil sie als direkte Verbindung zu Gott angesehen wurde. Die Darlegung der Harmonia Aeterna bei Buttstett gleicht somit einem letzten Aufbäumen gegen die Strömungen der Zeit, was in der Überschrift seines VI. Kapitels der o.g. Abhandlung: „Ut, Mi, Sol ...“ besonders zum Ausdruck kommt: „Caput. VI. Beweiset, dass die Musik ewig bleiben wird und dass man dereinst im Himmel mit eben denen Sonis, so hier in der Welt gebräuchlich sind, musiciren werde.“

Auch Lorenz Christoph Mizler (*1711-†1778) sieht sich als Verteidiger der alten und wahren Lehre: "Die klugen und alten griechischen Weltweisen hielten die Musik für das beste Mittel, einen Studierenden zu den Wissenschaften aufzumuntern, und die Pythagoräer haben solches in der Erfahrung begründet befunden; zu unseren Zeiten aber, da die Welt mehrentheils aus lauter neumodischer Weisheit überklug geworden, ist nun das Gegentheil wahr. Man wird zu seiner Zeit diese thörigte Meynung mit kräftigen Gründen abweisen." 

Nachdem sich Johann Sebastian Bach der Correspondierenden Sozietät der musikalischen Wissenschaften Mizlers angeschlossen hatte und u.a. die Kunst der Fuge als Jahresgabe zu überreichen gedachte, spricht einiges dafür, dass sich seine Art der Weltbild-Verteidigung in seinem Werk widerspiegelt. Es handelt genau besehen um ein einzigartiges musikalisch-theologisches Manifest. So gesehen kommt der Anspielung auf Psalm 118, 22 besondere Bedeutung zu: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden" (Christoph Bossert). Aus dem Kontext der Zeit ergibt sich, dass er mit dem Eckstein nichts anderes als die Musik gemeint haben kann, deren Stellenwert von namhaften Zeitgenossen seiner Auffassung nach sowie nach Auffassung der Sozietätsmitglieder verkannt wurde. Deren Anliegen, "dieMajestät der alten Musik wiederherzustellen" wird nur verstanden, wenn man von ihrem Stellenwert bis dahin einen Begriff hat. Sie enthält Grundregeln für ein gesellschaftliches Zusammenleben. Der Bezug auf Pythagoras, der lange vor Christus lebte (*570 -†510) erlaubt eine überkonfessionelle Perspektive, mit der sich bereits die Aufklärung andeutet. Vielleicht spielt auch mit hinein, dass man noch lange Zeit nach dem 30jährigen Kriege von religiösen Auseinandersetzungen genug hatte.   

Die Bemühungen des Andreas Cellarius (*1596-†1665), der eine Himmelskarte mit christlichen Sternbildern entwarf, kamen bereits zu spät, um noch allgemein durchgesetzt werden zu können. 

                       

Himmelskarte des Andreas Cellarius aus seiner Harmonia Macrocosmica von 1660/1.

Die Einführung eines neuen Kalenders (Revolutionskalender ab 1789) und die Einführung einer 10Tage-Woche sowie der Dezimalzeit – der Tag wurde in 10 Std. à 100 Minuten geteilt – sprechen für sich, denn es galt, sämtliche christlich-symbolischen Bezüge aus dem Lebensumfeld zu entfernen, um den Blick frei- und dem rationalen Denken zugänglich zu machen.

Noch als Charles Darwin (*1809-1882) die Kenntnisse zur Entwicklung der Lebewesen auf eine neue Grundlage stellte – sein Werk: “On the Origin of Species“ erschein 1859 – war auch er mit Anfeindungen konfrontiert, weil er nicht allein die Schöpfungsgeschichte-, sondern zugleich das Selbstverständnis des Menschen als Ebenbild Gottes in Frage gestellt hatte. Sigmund Freud (*1856-†1939) sprach daher aufgrund der umstürzenden wissenschaftlichen Entdeckungen, deren Inhalte starke Gefühle verletzten, 1917 von den „Drei Kränkungen der Menschheit“: die kosmologische Kränkung (Nikolaus Kopernikus), die biologische Kränkung (Charles Darwin) sowie die psychologische Kränkung (Sigmund Freud). Als vierte liesse sich die musikalische Kränkung hinzufügen: der Verlust des ethisch-symbolischen Gehalts der Harmonielehre als Folge der Aufklärung.   

Zwar flammt die spirituelle Wertschätzung der Musik bei einzelnen Komponisten immer wieder auf, z.B. bei Olivier Messiaen, (*1908-†1992), gleichwohl ist die Kenntnis der einstigen symbolischen Durchdringung der Harmonielehre in Vergessenheit geraten. Deren letzte Blütezeit fällt mit dem Schaffen Johann Sebastian Bachs zusammen. Einen visuellen Eindruck vermittelt die künstlerische Ausgestaltung der protestantischen Friedenskirche zu Swidnica /Polen, die der Musik einen besonders hohen Stellenwert einräumt. Dort wirkte der Bach-Schüler Gottlob Christoph Wecker (*1707-†1774). An höchster Stelle über dem Altar erscheint die Orgel und stellt mit ihrer Musik einen immateriellen Übergang zum Paradies her. Nicht zufällig wird in der Deckenbemalung das Himmlische Jerusalem sichtbar. Der nach optischen Gesichtspunkten gegliederte Aufbau des Altars hat mit seiner hierarchischen Stufung, seinen Symmetrien und Spiegelungen ein akustisches Äquivalent in der Kunst der Fuge

                          

                                Swidnica, Friedenskirche, Altar

                         

                              Swidnica, Friedenskirche, Orgel

© Aurelius Belz 2018