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14.08.2018

B18 Das christlich-mittelalterliche Weltbild und seine methodischen Mängel

Die mittelalterlich-christliche Vorstellung hat mit der pythagoreischen gemeinsam, dass ein Zusammenhang gesehen wurde zwischen der Harmonie der Musik und der Harmonie des Kosmos. Beides wurde in einen übergeordneten theologischen Kontext einbezogen, wobei zweierlei Vorgehensweisen unterscheidbar sind: die Beobachtung und die Analogieübertragung.

Die Beobachtung

Ausgangspunkt der Astronomen war der Standort des Betrachters auf einer unbeweglich anmutenden Erdoberfläche. Über ihr bewegen sich die mit blossem Auge sichtbaren Wandelsterne, die Sonne, der Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. In einer Ebene darüber erschien ein fix verankert scheinendes Sternenmeer, welches sich mittels Sternbildern „kartographieren“ lies, und auch dieses schien die Erde periodisch zu umkreisen. Das Vorhandensein der Schwerkraft stützte diese Auffassung. Das geozentrische Weltbild ist demnach zunächst einmal nichts anderes als das Resultat einer Beobachtung.

                           

         Geozentrisches Weltbild, Schedelsche Weltchronik 1493

Die Annahme, dass sowohl die Wandelsterne als auch die Fixsterne in je einer eigenen Sphäre verankert sein müssten, kollidierte mit der Beobachtung der Planetenschleifen, für die es eine Erklärung geben musste. Eine Beobachtung korrigiert die andere. Das entspricht wissenschaftlichem Vorgehen. Fehlerhafte Interpretationen und deren Korrekturen führen zu schrittweisem Erkenntnisgewinn.

Nach längeren Überlegungen und mit Hilfe eines verbesserten Instrumentariums zur Beobachtung musste irgendwann die Feststellung gelingen, dass Merkur, Venus, Mars, Erde, Jupiter, Saturn und weitere Planeten um die Sonne kreisen und nur der Mond um die Erde – und ferner, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht. Diese sehr verkürzte Darstellung der Anfänge beschreibt das Entstehen einer Wissenschaft, die sich heute Astrophysik nennt.

Die Analogieübertragung

Pythagoras wird die Vorstellung zugeschrieben – sicherlich ist sie sehr viel älter – dass die Welt von einem Demiurgen erschaffen wurde. Lassen wir den Glauben an einen Schöpfergott als solchen auch unangetastet, so basiert die Ansicht, dass die Erscheinungsformen auf der Welt allein deswegen eine Gemeinsamkeit-, gewissermassen eine Corporate Identity des Weltherstellers aufweisen müssten, nicht auf einer zwingenden Schlussfolgerung, denn gerade ein allmächtiger kreativer Schöpfer sollte des Multitaskings fähig sein und verschiedene Ideen zeitgleich umsetzen können, welche sich in den Naturgesetzen widerspiegeln. Eine solche Sichtweise hätte das wissenschaftliche Arbeiten zu keiner Zeit behindert.

Doch auf den Umkehrschluss kam es besonders an, weil ein einziger-, allem zugrunde liegender Bauplan die Existenz eines Einzelschöpfers plausibel erscheinen lässt. Die Konkurrenz verschiedener Weltbilder – vor allem der als Vielgötterei angeprangerte Polytheismus der Griechen und Römer – machte es erforderlich, ein solches „Gegenargument“ aufzubieten und dazu gehörte ferner, dass in den Gesetzlichkeiten selbst eine Beziehung zur Hl. Schrift erkennbar sein musste. Nachdem eine Kausalitätsbeziehung nicht auffindbar war, stand nur Symbolik zur Verfügung. Dies - die Analogieübertragung - ist gewissermassen die 2. Wahl, denn die 1.Wahl wäre ein schlüssiger Gottesbeweis gewesen.

Hier finden also mehrere Vorgänge gleichzeitig statt: 1 Die Fortsetzung der Vorstellung, dass der Himmel eine Wohnstätte der Götter bzw. des Gottes sei. 2. Die Übernahme der griechischen Erkenntnisse bezüglich der schwingenden Saite. 3. Die Anreicherung jener Erkenntnisse mit christlicher Symbolik. 4. Die Beobachtung, dass die monotheistische Sichtweise nicht in Widerspruch zur pythagoreischen Annahme eines Demiurgen steht. 5. Die Übernahme des von Pythagoras vertretenen Zusammenhangs von musikalischer und kosmischer Harmonie. 6. Die Ansicht, in alldem könne ein Bezug zu den Inhalten des Alten und Neuen Testamentes erkannt werden.

Dieses Weltbild wurde derart bedeutsam, dass zu dessen Aufrechterhaltung besondere Machtmittel zum Einsatz kamen: Die Verfolgung, Folterung und Hinrichtung Andersdenkender - ungeachtet der 10 Gebote -  Kirchenbann, Exkommunikation, Bücherverbrennung sowie der Index. Zudem hatte die Kirche über viele Jahrhunderte das Bildungsmonopol inne.

All dies geschah in diametralem Widerspruch zu den Inhalten der Harmonielehre, die ein Erreichen der Seligkeit ohne Feindesliebe und Weisheit unmöglich machen. Demnach hätte auf die wichtige Analogie zur Harmonie unter den Menschen aufmerksam gemacht werden müssen, nicht auf die Analogie zu den Sternen. Bei Beachtung allein dieses Grundsatzes wären schon die Kreuzzüge undenkbar gewesen, doch das Machtinteresse stand eindeutig im Vordergrund.

Ein Überblick über die Publikationen zur Kosmologie macht deutlich, dass noch über die Kopernikanische Wende hinaus ungeachtet der Konfessionszugehörigkeit an der Vorstellung einer Harmonia Marcrocosmica festgehalten wurde. Zu den letzten Apologeten zählen Johannes Kepler (1571-1630), Andreas Cellarius (1564-1665), Athanasius Kircher (*1602-†1680) sowie Johann Heinrich Buttstett (*1666-†1727).

Erst im Zeitalter der Aufklärung vertraten prominente Geister öffentlich - und ungestraft - eine andere Denkart. So schreibt z.B. Leibnitz über das Universum: „Gott hätte nie eine so unvollkommene Maschine geliefert.“, oder Immanuel Kant: „… die Natur ist sich selbst genugsam, die göttliche Regierung ist unnötig.“ und ferner Laplace über Gott: „Ich habe dieser Hypothese nie bedurft“.

Charles Darwin zitiert hingegen William Whewell, (*1794-†1866), der als gläubiger Mensch eine Brücke zu bauen versucht, indem er schreibt: „But with regard to the material world, we can at least go so far as this – we can perceive that events are brought about not by insulated interpositions of Devine power exerted in each particular case, but by the establishment of general laws.“

An anderer Stelle spricht Whewell von „intelligent design“ und schliesst seine Abhandlung mit den Worten: „… where science has thrown her strongest illumination upon the scheme of creation, … we find full wisdom and harmony, and beauty … this harmonious combination of laws, this beautiful symmetry of relations … we cannot doubt to be the worthiest objects of the Creators care.“

Somit ist die oben beschriebene Ansicht, dass ein Hinweis auf den Schöpfer in allen Dingen erkennbar sein müsse, korrigiert worden. Mehr noch: Es wurde erkannt, dass Symbole, Gleichnisse und Analogien es ermöglichen, Zusammenhänge zu unterstellen, welche kausal nicht gegeben sind. Seitdem gilt deren Anwendung in wissenschaftlichem Kontext als unprofessionell. Die Folge ist eine Abgrenzung von Weltbildern schlechthin, da sie etwas Menschengemachtes beschreiben, keine Naturbeobachtung. Der Begriff Weltbild bezeichnet demnach ein Bild von der Welt als subjektive Interpretation derselben. Von daher ist es einem Kunstwerk nicht unähnlich, nur mit dem Unterschied, dass seine Inhalte von den jeweiligen Anhängern als Wahrheit betrachtet werden. Um im Bilde zu bleiben ist dies geradeso, als ob abbildlich dargestellte Lebewesen plötzlich lebendig werden könnten. Spiegelbildlich hierzu wäre die Science-Fiction zu betrachten, die sich jedoch bereits im Namen als Vorstellungswelt zu erkennen gibt, während das Geglaubte in sämtlichen Kulturen als Wahrheit gilt.   

Inzwischen haben die Naturwissenschaften ein Wissen zusammengetragen, das weit über den mittelalterlichen Horizont hinausgeht, doch liegt die akademische Bemühung überhaupt nicht darin, Weltbilder zu entwerfen, sondern darin, die Welt wie sie ist, bestmöglich zu verstehen.

Der methodische Konflikt zwischen Analogie- und Kausalbezug bleibt demnach auch Jahrhunderte nach der Aufklärung unverändert. Er hat seine Ursache in den 2 Verknüpfungsmodi humanen Denkens, welche mit alternativen Fakten das Ausgangsmaterial für unsere Überzeugungen bereitstellen. 

Die abendländische Harmonielehre verfügt über das didaktische Potential, den souveränen-, d.h. gewaltfreien Umgang mit diesen Überzeugungen zu schulen. Jede Generation ist von neuem mit der gleichlautenden Herausforderung konfrontiert und die Gefahr besteht stets in der Überbetonung verabsolutierter Halbwahrheit. Absolutismus und Aufklärung künden davon. Die Harmonielehre berichtet dem gegenüber von der symmetrischen und ausgewogenen Handhabbarkeit ungleicher Elemente.  

Im historischen Rückblick hat das mittelalterlich-christliche Weltbild die Aufklärung herausgefordert. Seitdem spricht man von einer Harmonie des Kosmos nur noch in metaphorischem Sinne. Die christliche Symbolik des Tonsystems ist zuerst aus dem Blickfeld- und sodann in Vergessenheit geraten. Dies zugelassen zu haben ist eine gravierende Nachlässigkeit. Geradezu ermahnend schreibt William Shakespeare (*1564-†1616):  

“The man that hath no music in himself,

Nor is not moved with concord of sweet sounds,

Is fit for treasons, stratagems, and spoils;

The motions of his spirit are dull as night,

And his affections dark as Erebus.

Let no such man be trusted.

Mark the music.”

William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, V. Akt, 1. Szene

Trotz aller Bemühungen, strukturelle Gegebenheiten verständlich darzulegen und für die Mit- und Nachwelt nutzbar aufzubereiten, stand und steht es den Menschen jederzeit frei, anderen Interessen zu folgen. Der ignorante Umgang mit dem ethischen Gehalt der Harmonielehre ist ein nachdenklich stimmendes Beispiel hierfür.  

© 2018 Aurelius Belz