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05.07.2019

B20 Bildungsdirektion Zürich fällt kategorischen Entscheid

Musiklehrer sollen über die Einbeziehung des theologischen Gehalts der Harmonielehre selbst entscheiden

 

Wenn es den Lehrkräften überlassen bleiben soll, ob sie die christliche Symbolik und den ethischen Gehalt der abendländischen Harmonielehre vermitteln möchten – wie es die Bildungsdirektion Zürich dem Verfasser kürzlich mitteilte – bleiben wesentliche Verständnisfragen ggf. unbeantwortet. Nachfolgend einige Beispiele:  

Die Prim ist ein Widerspruch in sich, eine contradictio in eo ipso. Der Name steht für ein musikalisches Intervall, doch hat es die Grösse Null. Name und Betrag stimmen nicht überein. Also um was handelt es sich nun: um einen Abstand oder um keinen Abstand? Die mathematisch veranlagten Griechen kannten sie nicht, denn sie definierten ein Intervall als Abstand zweier ungleicher Töne - die vorchristlichen Römer ebenso, da sie die griechischen Fachausdrücke verwendeten. Die Konsonanz der Prim ist ein theologisches Konstrukt des 3. Jahrhunderts, da die Frührchristen nicht einfach bereit waren, das Kulturgut ihrer Peiniger-, deren Vielgötterei sie verabscheuten, unverändert zu übernehmen. Jedoch: wenn der Kirchenvater Aurelius Augustinus in seiner Abhandlung über Musik feststellte, dass nichts einander so ähnlich sei wie die 1 der 1 - und aus genau diesem Grund handele es sich um den Inbegriff totaler Verschmelzung und liebster Liebe -, so liegt er damit sachlich falsch, denn auch die 3 stimmt mit der 3 zu 100% überein, mehr geht nicht. Schlichtweg alles, was man mit sich selbst vergleicht, ist identisch.

Dass 5 Ganzton- und 2 Halbtonschritte zur Oktav führen, obwohl 5 Ganze und 2 Halbe 6 ergeben, ist ein ebensolches mathematisches Unding. Ferner kam es zur Einführung von Intervallbezeichnungen wie "kleine Sekund", wörtl. "kleine Zwei", und "grosse Terz", wörtl. "grosse Drei", damit der Symbolbezug-, die Zählung zur 8, aufrechterhalten bleiben konnte. Der Name Oktav (Inbegriff der Konsonanz: daher die Gleichnamigkeit mit der Prim) steht sowohl für die Auferstehung am 8. Tage (Kalenderkongruenz gemäss biblischer Zählung) als auch für die 8 Seligkeiten (Bergpredigt). Ein Analogon findet sich im visuellen Bereich, wo das Licht für Christus steht, der von sich sagte: "Ich bin das Licht der Welt". Davon künden die gotischen Kathedralen mit ihren lichtdurchfluteten Fenstern. In beiden Fällen geht es um immaterielle Erscheinungsformen und deren spirituelle Interpretation. Fast müssig zu ergänzen, dass die Griechen das Zahlwort oκτάβα nicht verwendeten, zumal sie wussten, dass 6 Ganztonschritte sogar noch ein klein wenig grösser sind als das, was wir noch heute als Oktav bezeichnen.  

Derart haarsträubend unlogische Dinge zu vermitteln, ohne ihr Herkommen zu hinterfragen, ist eine pädagogische Katastrophe und mit ein Grund für die weit verbreitete Abscheu gegenüber der Harmonielehre. Solche Zumutungen kann man nicht einfach mit gutem Willen verstehen - nur auswendig lernen - und dann werden für die vollzogene Unterwerfung des Intellekts auch noch Noten vergeben! Gewiss wird man niemandem einen Vorwurf machen, der von diesen relativ neuen Forschungsergebnissen des Verfassers noch keine Kenntnis hatte. Sie den Schülern jedoch willentlich vorzuenthalten, weil sie den eigenen Vorstellungen nicht genehm erscheinen oder weil es der Einarbeitung bedarf, dürfte nicht einfach kommentarlos hingenommen-, oder mit einem "ist doch einerlei" abgetan werden. Mit einer solchen Einstellung braucht man erst gar keine Lehrpläne zu entwickeln. Dazu wurden die Errungenschaften der Aufklärung zu hart erkämpft, dazu sind Schulen zu teure Einrichtungen und dazu hat die Verantwortung gegenüber der heranwachsenden Generation ein zu grosses Gewicht.    

Mit dem Entscheid der Bildungsdirektion, diese Inhalte nicht einmal ansprechen zu müssen, würden die Fundamente und Querverbindungen der europäischen Kultur zu Staub zerfallen und nicht allein der Zugang zu den Kirchentonarten-, den Gregorianischen Chorälen- oder zu J.S.Bachs Kunst der Fuge verstellt. Es bliebe unerkannt, wie es zur Entdeckung der gleichschwebend temperierten Stimmung kommen konnte, ohne die es die klassische Klaviermusik in dieser Form gar nicht gäbe u.v.m. Wie erlebt man eine Kathedrale, welche ihrerseits in der Schrittfolge einer Kirchentonart proportioniert wurde, einer Tonart der Freude, um dem Jubel über die Auferstehung Ausdruck zu verleihen? (Exsultet: es jauchze!) Verständnis zu entwickeln geht anders. 

Im Vergleich dazu wäre die Totalzerstörung von Notre Dame de Paris ein wohl schmerzlicher-, doch hinnehmbarer Verlust, weil es sich bei Symbolik und Analogie um das Ausgangsmaterial zur interdisziplinären Verknüpfung der Künste- und aus ethischer Sicht um den Schlüssel zur interkulturellen Verständigung handelt. Harmonieverständnis befähigt zu synergetischem und empathischem Handeln. Wir haben die Kernsubstanz der vielbeschworenen abendländisch-christlichen Werte vor uns: Die Anfangssilben des Johannes-Hymnus (Johannes der Täufer, Wegbereiter Jesu) bilden nicht zufällig die Grundlage der Solmisation: "Ut, Re, Mi, Fa, So, La und Si" - der musikalischen Jakobsleiter zur Seligkeit. Selbstverständlich ist sie aufsteigend - im Unterschied zu den altgriechischen Skalen. Sie hat ihr theologisches Pendant in den 7 Gaben des Hl. Geistes: Gottesfurcht, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Tapferkeit, Barmherzigkeit, Feindesliebe und Weisheit. In beiden Fällen ist das Ziel Gottesnähe und immerwährender Friede durch den Zusammenfall aller Gegensätze - die Auflösung sämtlicher Dissonanzen - in Gott. Das physikalische Phänomen der Konsonanz, welches Schönheitsempfinden und seelisches Wohlergehen durch Beruhigung (Schwebungsfreiheit) und Übereinstimmung zu evozieren vermag, erwies sich als akustisches Erklärungsmodell hierfür in hervorragender Weise geeignet. 

Zahlreiche Lexikonartikel und Schulbücher sind nun um diesen wichtigen Aspekt zu ergänzen, der nicht weniger beinhaltet als den Sinn des Ganzen. Gewiss wird es eine Weile dauern, bis das Bewusstsein dafür reift, mit welch einem kulturhistorischen Fundstück wir es hier zu tun haben. Zwar lag es offen vor aller Augen, doch wurde es nicht erkannt, weil der polydisziplinäre Zugang dazu fehlte. Daher kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass es erforderlich ist, Kulturgut aus der Bildungsperspektive der Entstehungszeit zu betrachten. Es wäre ein fataler Fehlschluss, anzunehmen, dass unsere Vorfahren nicht auch schon vernetzt dachten. Im Gegenteil, gerade diesbezüglich können wir noch einiges von ihnen lernen. Die Beobachtung, dass Forschungsergebnisse in der Regel etwa 15 Jahre brauchen, um ins Allgemeinwissen überführt zu werden, bedarf im Zeitalter der Kommunikation einer besonderen Erklärung, denn ein Werbeslogan braucht dafür nur wenige Tage.   

Hand aufs Herz! Wer hat in seiner Schulzeit je davon gehört, dass unser Tonsystem frühchristliche Prägung aufweist und ohne Bibellektüre unverstanden bleiben muss? Es zu durchschauen bedeutet auch, ein bedeutendes Beispiel dafür vorlegen zu können, wie Manipulation funktioniert. Vom dritten Jahrhundert bis in die Zeit J.S.Bachs war die göttliche Abkunft der Musik vorgeschriebene Lehrmeinung - und noch heute werden Menschen zu einem Zeitpunkt getauft, zu dem sie ihre Auffassung bezüglich des damit verbundenen Weltbildes noch gar nicht entwickeln konnten. Ist das Freiheit oder eine Weiterführung jener Bevormundung unter Ausnutzung der lernsensiblen Phase des Menschen (Prägung), wobei die mit dem Bekenntnis verknüpfte Kirchensteuerpflicht nicht unerwähnt bleiben sollte. Wer sich vor 450 Jahren darauf berief, dass die Bibel gar nicht von einer Säuglingstaufe berichtet (sola scriptura), wurde bei lebendigem Leibe verbrannt. Wer möchte heute "Kultur" dazu sagen? Auch aus kirchenkritischer Perspektive wäre es ein schwerwiegender Mangel, von der theologischen Instrumentalisierung des vormals griechischen Tonsystems keine Kenntnis zu haben. Daher gehört es zu den aufklärerischen Pflichten, den Stoff zu vermitteln, denn uneingeschränkte Information ist die erforderliche Grundlage des freien und kritischen Denkens.   

Mit dem Beschluss, den Entscheid den Lehrkräften zu überlassen, hat die Bildungsdirektion Zürich gleich 2 neue Bälle ins Spiel geworfen: Zum einen jenen der Marginalisierung, denn ein Kulturgut europäischer Grössenordnung ist, was es ist. Berücksichtigen wir das Verbreitungsgebiet der Klaviatur, können wir sogar von einem Weltkulturerbe sprechen. Warum bitte, soll denn die europäische Identität derart klein gehalten werden und zur Beliebigkeit verkümmern? Weil es so viel Arbeit macht, einen Lehrplan zu ändern oder "aufgrund der religionspolitisch aufgeheizten Zeiten", wie es die Redaktion einer namhaften deutschen Wochenzeitung dem Verfasser gegenüber offenbarte? Im ersten Falle wäre von Bequemlichkeit zu sprechen, im zweiten Fall von Selbstzensur! Oder steckt gar strategisches Kalkül dahinter, den brotlosen Künsten keine höhere Wertigkeit zuzugestehen? Wenn Bildungsinhalte und ethische Werte in Gefahr geraten ist prinzipiell Vorsicht geboten! Hinter materiellem- und geistigem Konsum stehen diametral unterschiedliche Wertvorstellungen und Ziele, und die Interessen der Wirtschaft reichen bekanntermassen über die Politik hinein bis in die Schulen. Die Harmonielehre steht in Opposition zu jedweder strategischen Vorteilnahme und kennt daher keine Sieger. Kein Orchester und keine Familie wäre ohne die Einhaltung ihrer Prinzipien existenzfähig. Durch Musikerziehung wird ein Verhaltenskodex trainiert. Er beinhaltet das aufeinander Hören, die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun, die Rücksichtnahme aus Einsicht, die Mitfühlung, das Beachten der leisen Stimmen sowie das synergetische Zusammenwirken. Ein gelungenes Orchesterwerk belegt die Realisierbarkeit des Ganzen. Selbstverständlich geht es darum, das Gelernte mit entwickeltem Sozialverhalten auch auf andere Gebiete zu übertragen. Nicht weniger als das Funktionieren der Gesellschaft und der Erhalt unserer Lebensbedingungen hängen davon ab. Der Beschluss der Bildungsdirektion lässt eine besondere Wertschätzung dieser Inhalte - welche die Keimzellen des globalen zivilisatorischen Fortschritts in sich tragen - nicht erkennen.   

Zum anderen geht es um die Meinungsabhängigkeit als solche. Was haben die Lehrkräfte den Eltern voraus, eine solche Entscheidung nach eigenem Ermessen fällen zu können? Warum wird nicht das Schweizer Stimmvolk befragt? Damit würde nur zum Gegenstand, wer den Tarif durchgeben darf und so wird die Wissenschaft gespannt darauf warten, wer ihr demnächst welche Vorschriften macht. Die historischen Wissenschaften arbeiten grundsätzlich gegen den Zeitgeist und kommen damit ihrem Auftrag nach, denn wer fortschreiten will muss wissen, wo er herkommt. Zu diesem Auftrag gehört es selbstverständlich, auch unbequeme Wahrheiten auf den Tisch zu legen - und gewiss nicht, sie unter den Tisch zu fegen. Es ist schlichtweg peinlich, an solche Basics überhaupt erinnern zu müssen. Sollte der groteske Fall eintreten, dass eine Gesellschaft eines Tages über die Akzeptanz ihrer eigenen Geschichte zur Abstimmung gerufen würde, wäre das Schildbürgertum perfekt. Nach Ansicht der Bildungsdirektion dürfen die Musikpädagogen das heute in ihrem eigenen Fachbereich schon einmal proben.      

Es scheint, als ob es der öffentlichen Diskussion bedürfe, dieses kulturgeschichtliche Fundstück an rechter Stelle - selbstverständlich altersgruppengerecht - in den Bildungskanon zu intergieren. Am Ende sollte jeder von diesen Sachverhalten Kenntnis haben, da sie zu den Grundlagen der Allgemeinbildung gehören wie die Zeitrechnung ab Christi Geburt.

Jawohl, es ist mit Erschütterung zu betrachten, dass es einmal möglich war, ein Weltbild länderübergreifend zu implementieren und das freie Denken gewaltsam zu unterdrücken - denn grundsätzlich alles wurde als Teil der Schöpfung gesehen und hatte sich in ein zurechtgezimmertes Gedankengebäude zu intergrieren - die zierliche Passionsblume ebenso wie das klarsichtig konzipierte Tonsystem der Griechen. Die oben gezeigten Deformationen des mathematischen Regelwerks sprechen für sich: was nicht passte wurde passend gemacht. Eine derartige Machtausübung bis hin zum Gottesgnadentum zog den Protestantismus-, die Aufklärung und die Französische Revolution geradezu zwingend nach sich.

Von alldem - oder von wesentlichen Teilen davon - heute nichts mehr wissen zu wollen, wäre purer Leichtsinn, weil es nicht zu dem führt, was man als Lernkurve bezeichnen kann. Doch darin läge der Sinn des Leids vorausgegangener Generationen. Selbstkritik erfreute sich nie grosser Beliebtheit, doch ergibt sich daraus die demokratische Befugnis, sie mangels Mehrheit abzuschaffen? Die Folge wäre eine über Lust und Laune manipulierbare Gesellschaft, der jede Form von Rücksichtnahme abhanden käme. Der Umgang mit den natürlichen Ressourcen kann als Index für die Bestimmung des Ist-Zustandes herangezogen werden. 

Nichts zu beschönigen und die Karten offen auf den Tisch zu legen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen sowohl für die eigene Entwicklung als auch für einen funktionierenden interkulturellen Dialog. Damit wissen die Musikpädagogen mit Sicherheit umzugehen und werden didaktisch beeindruckende Lösungen finden. Nur wäre es hilfreich, wenn sie "ihre persönliche Entscheidung" gegenüber Schülern und Eltern nicht jedes Mal zu rechtfertigen hätten, weil eine vorgesetzte Instanz nicht die Courage- oder auch nur einfach keine Lust hatte, sich zum eigenen Kulturerbe zu bekennen.        

© 2019 Aurelius Belz