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06.11.2019

B22 Auf dem Index der Gesellschaft

Über die Ablehnung theologischer Inhalte im abendländischen Tonsystem

 

„Wir haben ein griechisches Tonsystem! Da darf niemand kommen und theologische Inhalte einbringen!“ Das waren die Worte eines erfahrenen Musikpädagogen gegenüber dem Verfasser in dem Moment, als sein musikalisches Weltbild zusammenzubrechen drohte. 

Richtig ist jedoch: Wir haben ein römisch-katholisches Tonsystem mit griechischen Wurzeln und zahlreichen symbolischen Bezügen zur Heiligen Schrift. Der interessierte Leser findet in den Präsentationen und im Blog dieser Page mehr darüber.

In speziell dieser Betrachtung geht es jedoch nicht um die Diskussion des Forschungsgegenstandes, sondern um das Phänomen der Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf breiter Front, allein aus dem Grund, weil es sich um die Wiederentdeckung theologischer Inhalte handelt, welche in der Musik des Abendlandes vom 3. Jahrhundert bis in die Zeit Johann Sebastian Bachs eine wesentliche Rolle spielten.

Es verhält sich durchaus nicht so, dass heute jemand Interesse daran hätte, im Nachhinein etwas in das Tonsystem hineinzuinterpretieren, vielmehr geht es um eine unvoreingenommene wissenschaftliche Betrachtung der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, die man einst katholisch-, im Sinne des altgriechischen καθολικός, allumfassend oder ganzheitlich nannte.

An und für sich hätte es schon zu denken geben müssen, dass wir zwar von einem griechischen Tonsystem sprechen, dennoch aber für die Intervalle lateinische Ausdrücke verwenden wie: Prim, Sekund und Terz. Allein der Vergleich der griechischen Benennungen mit den lateinischen hätte auf signifikante Differenzen aufmerksam machen müssen, wie sie in der Präsentation XI, "Die Entstehung des abendländischen Tonsystems" vorgestellt werden. Wie wir aus einer zeitgenössischen Quelle erfahren, kam es zu einer "Übersetzung" erst nach dem 3. Jahrhundert, denn bis dahin zumindest verwendeten die Römer durchweg die griechischen Fachausdrücke.

Die Frühchristen haben also nicht einfach das Kulturgut ihrer Peiniger übernommen, deren Vielgötterei sie verabscheuten. Speziell in den lasterhaften und ausschweifenden Riten der Römer sahen sie den Inbegriff des Sündhaften, verboten selbstverständlich die Teilnahme daran und unterzogen das Tonsystem einer Heiligung, indem sie zahlreiche Bezüge zur Hl. Schrift herstellten. Man muss sich dies als einen Vorgang vorstellen, für den eine gewisse Zeitspanne erforderlich war, denn eine derart vernetzte Anpassung an die monotheistische Sichtweise ist nicht von einem Tag auf den anderen zu erwarten. Überhaupt sollte die katholische Lehre erst durch mehrere Konzilsbeschlüsse ihre Form gewinnen. Um die Trinitätslehre und das Glaubensbekenntnis wurde lange gerungen. Parallel dazu befand sich auch das Buch der Bücher selbst noch in einer Phase der Entwicklung, und bezüglich der Zahlenwerte und ihrer symbolischen Relevanz kann es sich daher kaum anders verhalten. Heute ist die Rede von 8 Seligkeiten und 7 Gaben des Hl. Geistes, doch 13 Seligkeiten werden in der Bibel genannt, und von nur 6 Gaben des Hl. Geistes berichtet der hebräische Urtext. Auch bezüglich der 5 Wunden gibt es ein Dilemma, denn entweder muss die Dornenkrone ausser acht gelassen werden, oder aber die beiden Wunden an den Füssen werden als eine gezählt, weil ein einzelner Nagel durch beide Füsse getrieben wurde. Fünfwundenkreuze und Fünfwundenrosenkränze zeigen beide Varianten. Mit der Vorstellung mathematischer Präzision muss man an christliche Symbolik also nicht herantreten. Dabei setzen sich die Unstimmigkeiten in der Musik fort, wo Halbe als Ganze gezählt werden, 5 Ganze und 2 Halbe 8 ergeben und nachträglich noch Behelfsziffern wie eine "kleine Zwei" (kleine Sekund) und "grosse Drei" (grosse Terz) eingeschoben werden.

Auf solche Weise wurden die Beobachtungen am Sternenhimmel (Harmonie der Sphären) und am Monochord nach damaligem Kenntnisstand mit der Glaubenslehre in Übereinstimmung gebracht, um auf den Schöpfungsplan Gottes hinweisen- und Analogiebezüge herstellen zu können. So liess sich den Zeitgenossen die Beschaffenheit der Welt erklären. Heute würde man von einer konstruierten corporate identity des Weltherstellers sprechen. Greifbar ist z.B. die Vorstellung des Kirchenvaters Irenäus (*ca.135 - †ca.200), der das Vorhandensein der vier Evangelien mit den vier Weltgegenden und den vier Himmelsrichtungen begründete. Das viergestaltige Evangelium stünde damit symbolisch für die ganze Welt. Ob es im Umkehrschluss diese Gründe waren, die dazu führten, nur 4 Evangelien in die Bibel aufzunehmen und die übrigen hingegen nicht, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Üblicherweise wurde in Zahlenbezügen älteres Kulturgut transportiert und ein Kontinuum hergestellt. Sicher ist nur, dass der Entscheid aus damaliger Perspektive gefällt wurde und nicht aus heutiger. 

Zahlreiche Symbolbezüge sedimentierten mit der Zeit zu Bildungsgut von festem Bestand, wurden von Kanzeln gepredigt, in den Künsten tausendfach umgesetzt und sind daher noch heute weltweit in ihnen ablesbar. Sie bilden das kleine Einmaleins der Kunstwissenschaft, wenn man so will. Gegenwärtig noch jedermann ein Begriff ist Freitag, der 13. mit Bezug auf den Karfreitag und die 13 Teilnehmer beim letzten Abendmahl. Aus der Kombination dieser beiden-, für Christen traumatischen Ereignisse, Verrat und Tod, ist im Volksmund der Unglückstag hervorgegangen. Daher fehlt diese Zahl an den Türen der Hotelzimmer, um den Gast nicht gleich bei der Ankunft mit einem bösen Omen zu erschrecken - bzw. aus unternehmerischer Sicht: um auch alle Zimmer bestmöglich vermieten zu können. 

Die Symbolik folgt ihren eigenen psychologischen Regeln - erzeugt böse Vorahnungen, triggert Erinnerungen an visualisierte Grausamkeit (Martyrien, Kreuzigung) - vor allem wirksam in einer Zeit, in der Krankheit und Tod sehr präsent waren und öffentliche Hinrichtungen stattfanden - und evoziert Hoffnung auf Fürbitte und Sehnsucht nach Glückseligkeit (vgl. Blog B 12: "Symbole, Spiegel des Menschen"). Symbole fassen komplexe Zusammenhänge in Form eines Kürzels zusammen und finden sich in liturgischen Handlungen in besonderer Verdichtung. Der Grund dafür ist naheliegend, denn wo das sinnlich Wahrnehmbare fehlt, weil wir es mit dem Spirituellen zu tun haben, sind nur noch Gleichnisse - darunter auch die bedeutungsgeladenen Symbole mit ihren Analogiebezügen - in der Lage, die Vorstellungswelt zu beschreiben. Symbole tragen zu einer Vernetzung des Denkens und Fühlens bei. Wie in Präsentation VIII "Einführung in die christliche Zahlensymbolik" vorgestellt, wurde jede Zahl von 1-15  teilweise sogar mehrfach symbolisch belegt - allerdings stets auf Kosten der Rationalität, denn Zahlen sind abstrakt und werden hier konkreten Sachverhalten, Erscheinungsformen oder Vorstellungen zugeordnet. Im Grunde fand auf diese Weise nichts anderes statt als eine Instrumentalisierung der Mathematik. Zahlen liefern Pseudobeweise, wie es Kardinal Nikolaus von Kues (*1401-†1464) sehr viel später festhalten sollte: "Können wir uns dem Göttlichen auf keinem anderen Wege als durch Symbole nähern, so werden wir uns am passendsten der mathematischen Symbole bedienen, denn diese besitzen unzerstörbare Gewissheit" - ein in sich unlogischer Satz, da er die Möglichkeit einer fehlerhaften Rechnung ausschliesst und sich nur auf die suggestive Verbindung von Zahl und Präzision stützt. Es ist kaum vorstellbar, dass dem gelehrten Kardinal das entgangen sein kann - und wenn nicht, so offenbart er damit sein strategisches Kalkül. Dessen ungeachtet verneigt er sich mit dieser Formulierung vor einer Disziplin, die ihre Wahrheitserkenntnis auch beweisen kann und beneidet das Erlangen von Gewissheit, deren Unzerstörbarkeit er betont, was er vom Glauben nicht behaupten kann - sonst wäre es kein Glaube. Mit der gewaltsamen Unterdrückung des freien, logischen und kritischen Denkens setzte ein, was man im Nachhinein als Verfinsterung des Mittelalters bezeichnen sollte. Hierzu Näheres in Blog B 18:  "Das christlich-mittelalterliche Weltbild und seine methodischen Mängel".  

Ab dem 5. Jahrhundert hören wir von einer Schutzpatronin der Musik, der Hl. Caecilie, deren Martyrium um das Jahr 230 eine starke Verehrung nach sich zog.

Stefano Maderno, Santa Caecilia, Trastevere, Rom

Ihre Gebeine liegen in Santa Caecilia in Trastevere in Rom, ein kleinerer Teil in der Kathedrale Sainte Caecile in Albi, dem grössten Backsteinbau der Welt im Département Tarn in Frankreich. Kardinal Jean Jouffroy hatte eigens einen Teil ihrer Reliquien dorthin überführen lassen und machte Albi dadurch zu einem bekannten Wallfahrtsort. Er selbst wurde auf seinen Wunsch 1473 unter dem Reliquienschrein bestattet. 

Sainte Cécile, Albi, Frankreich

Von der um 1600 von Stefano Maderno geschaffenen Marmorskulptur wurde in Albi eine hinreichend ähnliche Kopie angefertigt. Darüber hinaus gelangten kleinformatige Abgüsse als Devotionalien an die Pilger.

Santa Caecilia, Kleinbronze als Devotionalie

Es gibt zu denken, wenn die Heilige Caecilia heute in einschlägigen Lexika als Schutzpatronin der Kirchenmusik ausgewiesen wird - d.h., dass ihr nur noch die Zuständigkeit für einen Teilbereich zugestanden wird – nicht aber die Hoheit über die Musik schlechthin.

Zweifellos ist eine solche Zurückstufung wie auch die Ablehnung symbolischer Bezüge in Zusammenhang mit der Aufklärung zu sehen, mit der Einführung des Revolutionskalenders, der 10Tage-Woche und dem 10Stunden Tag, um nur einige Beispiele herauszugreifen. Die Aufteilung der Wissenschaften in unterschiedliche Disziplinen tat ihr Übriges, um den Blick auf das katholische Weltbild-, das die Ganzheit der Schöpfung sichtbar zu machen gedachte, zu verstellen. Zuvor lag den Septem Artes Liberales - bestehend aus Trivium und Quadrivium - ein anderes-, nämlich spirituelles Erkenntnisinteresse zugrunde, kein naturwissenschaftliches.

Aus all dem erklärt sich, wie es zur Fokussierung auf Griechenland als Ursprungsort der abendländischen Musik kommen konnte, womit man prinzipiell durchaus richtig lag. Doch beobachten wir damit auch eine Gegenbewegung, denn in gleicher Weise, wie sich die Frühchristen mittels Symbolik von der Ratio der Griechen und Römer abzugrenzen vermochten, dient die Hinwendung zu den Griechen nun einer Abkehr von der Symbolik. Eine beachtenswerte Richtungsumkehr nach 1500 Jahren Dominanz der Kirche. Jedoch leidet die Unvoreingenommenheit der kulturhistorischen Forschung noch bis heute unter der Wucht des aufklärerischen Befreiungsschlages. Man will den theologischen Gehalt einfach nicht zur Kenntnis nehmen, was sich mit dem Beharren auf einer Trennung der Fachdisziplinen auch unschwer erreichen lässt. Wissenschaflich korrekt ist das jedoch nicht.

Eine bedeutende Rolle in der Musikgeschichte nimmt Guido von Arezzo (*992 - †1050) ein. Nur schon, dass er Benediktinermönch war, hätte zwingend Anlass zum Nachdenken darüber geben müssen, aus welcher Perspektive er die geschichtlichen Ereignisse betrachtete, zudem sind seine eigenen Aussagen hinreichend deutlich. So verweist er z.B. klar auf die Kongruenz zwischen der diatonischen Tonfolge und den biblischen Wochentagen, wie es die Präsentation XII mit dem Titel: Die Entwicklung der Klaviatur vorführt. Ebenso schreibt er: "Es gibt also acht Tonarten wie es acht Arten von Seligkeiten gibt." Hierzu mehr in der Präsentation VII: "Wie die Oktav zu ihrem Namen kam."  Aufgrund der ausgeprägten fachlichen Spezialisierung fehlt es heute an grundlegenden Kenntnissen zum Nachvollziehen der innig verflochtenen interdisziplinären Bezüge. 

Doch kehren wir zurück zur Problematik der Ablehnung. Märtyrer kann es überhaupt nur deshalb geben, weil das Andersdenken von bestimmten Interessengruppen nicht ertragen werden kann, die ihr Weltbild verteidigen wollen. Grausamkeit dient dabei als Mittel der Abschreckung. Andere Varianten sind die Zensur oder der Index. Danach kommt die Ignoranz – die schlichte Weigerung, etwas zur Kenntnis zu nehmen. In dem Bestreben, einen Sachverhalt gar nicht erst zu diskutieren und ihn damit als unwürdig abzutun, wird die Angst erkennbar, dass sich an der bisherigen Lehrmeinung - meist in Verbindung mit etablierten Machtstrukturen - etwas ändern könnte. Spricht man ein heikles Thema gar nicht erst an, bleibt alles wie es war und der Andersdenkende ist durch Zurückweisung mundtot gemacht.

So erklärt sich auch das Verhalten des Pontificio Consiglio della Cultura gegenüber dem Verfasser, denn die Publikationszusage der Libreria Editrice Vaticana wurde ohne inhaltliche Stellungnahme zurückgezogen, Vortrags- und Gesprächsangebote wiederholt und schroff abgelehnt. Es sei nicht die Aufgabe des Pontificio Consiglio della Cultura, wissenschaftliche Theorien zu billigen.

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So konnte hinsichtlich der Verortung der Kompetenz kein Zweifel aufkommen. Auf diese Weise setzte sich die oberste Kulturbehörde des Vatikan über die Empfehlung der ausgewiesenen Fachleute des Pontificio Istituto di Musica Sacra hinweg und die fürsprechenden Worte des emeritierten Benedikt XVI hatten kein Gewicht mehr (s. Blog B2 und B6). Da half es auch nicht, dass er aus der Liturgie-Konstitution des II Vatikanischen Konzils zitierte: "Der Schatz der heiligen Musik muss mit grösster Sorge bewahrt und gefördert werden." Ebenso führte das Engagement von Kardinal Gerhard Ludwig Müller zu keinem Ergebnis und sämtliche Versuche, zu Papst Franziskus vorzudringen, blieben fortan erfolglos, zumal die Zuständigkeit für Kulturgüter beim Pontificio Consiglio della Cultura liegt. Dabei ist völlig auszuschliessen, dass das eigene Kulturerbe nicht erkannt- und die vorgelegten Belege nicht zur Kenntnis genommen wurden.

Obwohl es dem Verfasser darum ging, dem geistigen Eigentümer ein verlorenes Kulturerbe-, verbunden mit dem Ausdruck höchster Wertschätzung gegenüber der überkonfessionellen Beschaffenheit des Fundgegenstandes, zurückzubringen, wäre es denkbar, dass die Studie zuviel an manipulativer Einflussnahme aufdeckte, denn die Musik - und nicht nur sie - wurde in weltanschaulicher Absicht derart instrumentalisiert und Menschen mit ihrer Hilfe derart psychisch beeinflusst, gar zu Tränen gerührt, dass weder von einer Autonomie der Künste noch von einer freien Willensentscheidung hinsichtlich des Glaubens ernsthaft die Rede sein kann - vom allzu frühen Zeitpunkt der Taufe für ein persönliches Bekenntnis des Täuflings einmal ganz abgesehen - denn jenseits dessen geht es um Kirchensteuer, um Macht, Einfluss und eine Menge Geld. Möge sich der Leser eine Meinung darüber bilden, ob die demonstrative Nähe zur Wissenschaft an katholischen Hochschulen angesichts solchen Verhaltens nicht geradezu heuchlerischen Charakter erhält, denn der Stachel im Fleisch ist der fehlende Gottesbeweis. Vom gezeigten Miteinander geht - wie am Beispiel der Zahlen gesehen - eine suggestive Botschaft aus, die absichtsvoll genutzt wird. Die Wissenschaft wird sich jedoch jedem Versuch der Instrumentalisierung entschieden widersetzen, da sie ansonsten ihre Identität verlöre. Der Mangel an Rückbesinnung auf die ethischen Werte und auf das Vorleben derselben ist auch innerhalb der Kirche ein sehr ernstes und viel diskutiertes Thema.

Einerseits ist mit derartigen Abläufen eine Entwicklungsbremse der Gesellschaft beschrieben, die einen hohen Preis dafür zu zahlen hat, denn der Sache nach geht es, wie noch zu zeigen sein wird, um nicht weniger als den zivilisatorischen Fortschritt, andererseits steigt der Druck auf die Vordenker und damit die Notwendigkeit, im Ringen um die Wahrheit Opfer zu bringen. Die Kirchengeschichte kennt zahlreiche Beispiele. So gelangten die Werke des Schweizer Musiktheoretikers Henricus Glareanus (*1488-†1563) auf den Index Pauls IV. Dort erscheint sein Name in der Rubrik "Auctores quorum libri et scripta omnia prohibentur". Die Unterdrückung einer neuen Erkenntnis dient nur dem Machterhalt, nicht aber der zivilisatorischen Entwicklung.   

Die Kirche hat erschreckend häufig ihre eigenen Werte missachtet und selbst das 5. Gebot ignoriert, gar zu Kreuzzügen aufgerufen. Daher wundert es nicht, wenn Aufklärer auch die Musik von ihrem Einfluss frei zu halten gedachten, die Symbolik unbeachtet liessen und die Zuständigkeit Caecilias nur noch für den Sakralbereich akzeptierten. Dabei spielte gerade auch die Vorstellung von einer Autonomie der Künste eine grosse Rolle. Gleichwohl ist der symbolische Gehalt der diatonischen Tonleiter ein ganz besonderer. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Präsentation IX mit dem Titel: "Die theologischen Grundlagen der abendländischen Harmonielehre". Keine Seligkeit ohne Weisheit und keine Weisheit ohne Feindesliebe ... das entspricht einer sehr hohen Anforderung an die Menschheit. Die unter dem Titel "7 Gaben des Hl. Geistes" - zusammengefassten ethischen Werte enthalten die Rezeptur zur interkulturellen Verständigung und verbinden die Harmonielehre mit keinem geringeren Ziel als dem Weltfrieden. Das ist der theologische Hintergrund für den vielerorts zu findenden Sinnspruch: MUSICA DONUM DEI und der Grund für die Relevanz der Orgel im Sakralraum als Pendant zum Altar, von dem sie so manches Gestaltungselement übernommen hat.

Die immaterielle Musik soll an den Traum des Jacob erinnern, denn in Genesis 28,12 heisst es: "Und er träumte. Eine Leiter stand auf der Erde. Ihre Spitze berührte den Himmel. Gottes Engel stiegen auf und nieder." und später in Vers 16 und 17: "Jakob erwachte aus seinem Schlafe und sprach: Fürwahr, der Herr ist an diesem Ort, und ich wußte es nicht. [...] Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist des Himmels Pforte." Die Analogie wird verstärkt sowohl durch den Begriff Tonleiter als auch durch den Begriff Oktav, der die acht Seligkeiten sowie die Auferstehung am 8.Tage mit der Konsonanz in Übereinstimmung bringt. Die Musik definiert auf diese Weise den Sakralraum, daher wurden die Schallöffnungen der Instrumente noch über Jahrhunderte mit Masswerkrosen versehen, um ihre Heiligkeit zum Ausdruck zu bringen. So, wie in Kathedralen das Licht durch sie hindurch dringt, welches mit Christus in Verbindung steht, da er von sich selbst sagte: "Ich bin das Licht der Welt" (Joh 18,12), so gelangt durch dasselbe sakrale Gestaltungselement die Musik als Geschenk Gottes zu den Menschen. Daher sehen wir auf den Instrumenten diese Rosen in Aussenansicht. In beiden Fällen handelt es sich um immaterielle Erscheinungsformen - Licht und Schall - und deren theologische Interpretation.   

Verschiedene Resonanzbodenrosetten mit religiösem Bezug

Zum Vergleich: Fensterrose von aussen, Notre Dame, Paris

Im Instrumentenkorpus wurde eine Art Tabernakel gesehen. Deshalb finden wir unter den Schalllochverzierungen auch zahlreiche Trinitätsdarstellungen. Ein bedeutendes Beispiel von Arnaut de Zwolle aus der Zeit um 1440 wird in der Präsentation X mit dem Titel "Sakrale Handys" vorgestellt. Darüber hinaus herrscht auch an schriftlichen Belegen kein Mangel. So formulierte beispielsweise Martin Luther: 

"Wer sich die Musik erkiest,

hat ein himmlisch Werk gewonnen;

denn ihr erster Ursprung ist

von dem Himmel selbst genommen,

weil die lieben Engelein

selber Musikanten sein."

Eine derartige Materialfülle zu übersehen führt im Umkehrschluss zur Annahme einer regelrechten Scheuklappenausstattung auf Seiten jener, welche den theologischen Gehalt der abendländischen Musik nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Da dies selbst in wissenschaftlichen Kreisen beobachtet werden kann, erschien ein Artikel des Verfassers mit dem Titel: "Polydisziplinäre Betrachtungen zur Symbolik des abendländischen Tonsystems. Über die akademische Missachtung europäischen Kulturerbes." (In: Rivista Internazionale di Musica Sacra, 36, 2015, 49-79.)

Die ablehnende Haltung bis hin zur Verstocktheit ist thematisiert in der künstlerisch hochrangigen Ausgestaltung des Spinetts der Giulia da Varano, Herzogin von Urbino, aus dem Jahr 1540 im Metropolitan Museum, New York. Der dortige Hinweis auf den Propheten Jesaja ist verbunden mit einer Warnung vor den fatalen Folgen - insbesondere der Sünde und des Bösen. Explizit heisst es daher auf dem Vorsatzbrett des Instuments "... non mi toccar, si tu non ha del buono". 

Spinett der Giulia da Varano, Metropolitan Museum, New York
Näheres hierzu in der Video-Präsentation XVII

In dem Bestreben, herauszufinden, um welche anderen Interessengruppen es sich noch handeln könnte, die der Kulturwissenschaft Steine in den Weg legen, stossen wir auf das Phänomen des Zeitgeistes. Aufgrund der kommunikativen Vernetzung stehen dem Leser genügend Informationsquellen und Anhaltspunkte zur Verfügung, die daher nicht eigens aufgelistet werden müssen. Anzusprechen ist jedoch die zugrunde liegende Eigenschaft des Menschen, der selbstkritischen Betrachtung auszuweichen. Auch ist die Bereitschaft zur Veränderung - vor allem, wenn es um substanzielle Neuerungen geht - nicht jedermanns Sache. Zudem spielen die Abgrenzung gegenüber anderen Ethnien, Kulturen und Glaubesgemeinschaften sowie der Erhalt des Wohlstands, der Kompetenz und Zuständigkeit eine wichtige Rolle. Psychologen könnten lange Abhandlungen darüber schreiben.

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Entscheid der Bildungsdirektion Zürich, der im Blog B 20 vorgestellt wird und die Aufnahme der Sachverhalte in den kantonalen Lehrplan verhindert.

Verlage und Medien analysieren den Zeitgeist sehr genau, da sie von Einschaltquoten und Umsatz leben. Daher ist ihnen bekannt, welche Angebote auf Interesse stossen und welche nicht und verhalten sich daher tendenziell spiegelbildlich zur Gesellschaft. Mit dem Auftrag, Bildungsdefizite auszugleichen oder gar wissenschaftliches Neuland zu betreten, sind sie überfordert. Die kollektive Ignoranz zahlreicher Verlage und Medien war dennoch erstaunlich und führte zu den Blogbeiträgen B21 und B23.     

Dem Forscher genügt die Feststellung, dass ein bedeutendes kulturgeschichtliches Fundstück vorliegt - ein Teil des spätantiken katholischen Weltbildes. Betrachtet man das Verbreitungsgebiet des Tonsystems und der Klaviatur, können wir sogar von einem Weltkulturerbe sprechen. Davon Kenntnis zu haben bildet die Grundlage für ein tieferes Verständnis kultur-, und speziell musikhistorischer Zusammenhänge. Nachfolgend ein Beispiel: 

Wie Christoph Bossert im Rahmen seiner umfangreichen Werkanalysen feststellte, sah Johann Sebastian Bach in der Musik - in Anlehnung an Psalm 118 Vers 22 - den Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein wurde. In der Kunst der Fuge legte Bach sein persönliches Glaubensbekenntnis ab und zwar sowohl in der Symbolik seiner Musik - speziell mit dem B-A-C-H Motiv bezieht er sich auf das Lukasevangelium 10, 20 wo es heisst: "Freuet euch, dass eure Namen im Himmel angeschrieben sind" und inszeniert mit dem unvermittelten Abbruch der Fuge seinen eigenen Tod - als auch in der Symbolik der zugehörigen Zeichnungen, auf deren Vorhandensein der Verfasser erst kürzlich aufmerksam machte. Zeitgleich mit dem Ende von Contrapunktus 5 führt Bach eine Passionsblume mit 14 Blütenblättern vor, deren Anzahl jedoch nicht dem botanischen Vorbild-, sondern vielmehr der numerischen Umsetzung seines Namens entspricht (A=1, B=2, C=3, H=8, 1+2+3+8=14). Im dargelegten Zusammenhang liegt es nahe, dass die 4 konzentrischen Ringe nicht auf die 4 Evangelisten-, sondern auf die 4 Buchstaben seines Namens verweisen. 

J.S. Bach, Die Kunst der Fuge, Passionsblume aus Contrapunctus 5 

Sodann zeigt er nach dem Ende des Stücks, sinnbildlich also nach dessen-, und in Anbetracht der mit seinem Namen verbundenen Passiflora damit auch nach seinem eigenen Ableben, den Ausblick auf eine Aue in Anspielung auf den in Ichform abgefassten Psalm 23,2: "Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser." Es ist geradezu typisch für sein kompositorisches Vorgehen, auf zweierlei Weise dasselbe zu sagen. Hier spiegelt sich das musikalisch-Semantische im abbildlich-Numerischen und gleicht der Wiederholung des Fugen-Themas B-A-C-H in visueller Registrierung. Wie bewusst er die Überleitung in den visuellen Kompositionsmodus vornahm, zeigen Blog-Beitrag C3: "Das Credo Johann Sebastian Bachs in Bild und Ton" sowie die Präsentation XV mit dem Titel "Bach-Blüten".

In analoger Weise, wie J.S.Bach zu seiner Zeit versuchte, die "Majestät der alten Musik" gegenüber dem Zeitgeist der Aufklärung zu verteidigen und sich zu diesem Zweck der Correspondierenden Sozietät der musikalischen Wissenschaften anschloss, sieht sich die Internationale Sozietät zur musikalisch-theologischen Bach-Forschung heute dazu veranlasst, ihre wissenschaftliche Arbeit gegenüber einem Zeitgeist zu verteidigen, dem die Wahrheitsliebe abhanden zu kommen scheint. Zu gegebener Zeit wird man einen treffenden Begriff für dieses Phänomen finden. Wortschöpfungen wie Fake News und alternative Fakten beschreiben einen verantwortungslosen Missbrauch des Geistes. Es fehlt an selbstkritischer Reflexion, denn weltweit verursacht das strategische Denken immense Schäden und baut die Synergiekompetenz-, welche die Harmonielehre in vorbildlicher Weise zu vermitteln verstünde, in besorgniserregendem Masse ab. In Nachkriegszeiten werden solche Inhalte weitaus besser verstanden als in Phasen des Wohlstands. Daher beziehen die nach dem 30jährigen Krieg entstandenen protestantischen Friedenskirchen die Orgel in den Altaraufbau ganz besonders mit ein. 

Die innige Verbundenheit von Theologie und Musik ist ein bedeutender Teil der abendländischen Kulturgeschichte.

Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz in Jelenia Góra 

Heute stehen wir vor einer grotesken Situation, denn so nachvollziehbar es ist, dass Musiker keine Einflussnahme in ihr Schaffen durch eine Religionsgemeinschaft akzeptieren, so sprechen die historischen Tatsachen doch eine andere Sprache und es wäre durchaus im Interesse der Musikausübenden, zu wissen, wie die abendländische Musik zu dem werden konnte, was sie ist. Das gilt nicht nur für die Analytik der schwingenden Saite durch die Griechen sondern ebenso für die Neudefinition der Inhalte durch die katholische Kirche, die das Tonmaterial mit weltanschaulichen Interpretationen anreicherte - ein Prozess, der sich nach der Reformation im Protestantismus ungebrochen fortsetzen sollte. Dadurch erhalten wir Einblick in den Wahrnehmungsmodus früherer Generationen. Nicht nur die Kirchentonarten-, auch die Intervallbezeichnungen und in ganz besonderem Masse die gleichschwebend temperierte Stimmung erscheinen nun in neuem Licht. Wir haben es mit einem Glaubensbekenntnis enormer Grössenordnung zu tun. Es einfach zu ignorieren zeugt nicht von zivilisatorischer Reife. Diese Reife wird entwickelt durch zwischenmenschliche Begegnung, nicht durch Abgrenzung. Gleichwohl zählt es nicht nur aus kirchenkritischer Perspektive zu den aufklärerischen Pflichten, von der theologischen Instrumentalisierung des abendländischen Tonsystems Kenntnis zu haben und den heranwachsenden Generationen sowohl die historischen Hintergründe als auch die Gefahren psychologischer Einflussnahme zu vermitteln.   

Vielerorts wird die Musik zum Zwecke der Völkerverständigung eingesetzt und damit genau dasselbe Anliegen verfolgt, das symbolisch einst intendiert war: Weltfrieden! - erreichbar durch den Erhalt der eigenen Überzeugung und das wertschätzende Zugehen auf die Mitmenschen. Damit sind die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und Kulturen aufgefordert, sich zusammenzusetzen und vor dem Hintergrund ihrer kriegerischen Geschichte einen synergetischen Neuanfang zu versuchen. Sollte das je gelingen, wird das Ergebnis seinem Wesen nach im Sinne des altgriechischen καθολικός, allumfassend oder ganzheitlich sein. Umso verwunderlicher, dass nun gerade jene Glaubensgemeinschaft, die diesen Namen trägt, ihr eigenes Kulturerbe mit derartigem Gehalt - welchen sie über mehr als 1500 Jahre hütete wie einen Schatz - als wissenschaftliche Theorie von sich weist.

Zweifellos hätte die Angelegenheit einen völlig anderen Verlauf genommen, wenn Benedikt XVI im Januar 2013 - seinen Amtsverzicht verkündete er am 10. Februar 2013 - die Zeit dafür gefunden hätte, das Geleitwort zur 1. Ausgabe der Studie zu verfassen.

Zur Verbesserung der Lesbarkeit bitte auf das Dokument klicken

 

© 2019 Aurelius Belz