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01.03.2023

C6 Auslese – Erziehung – Selektion. Die Gesellschaft und ihre Kinder

In makrohistorischer Betrachtung haben wir unseren Ist-Zustand einer Evolution zu verdanken, die das Genmaterial einem Ausleseprozess unterzog und weiterhin unterzieht. Dieser Prozess erfolgt nicht allein nach dem Kriterium der Stärke, sondern nach dem Kriterium der Anpassungsfähigkeit an die jeweils vorhandenen Rahmenbedingungen. Letztere bleiben jedoch nicht konstant. Ändern sie sich rascher als neue Varianten nachgeliefert werden, kann dies das Aussterben einer Art zur Folge haben.

Die Entwicklung des Gehirnes befähigt den Menschen dazu, seine Ist-Situation zu analysieren und sich wesentlich rascher anzupassen, als es die Natur vermag. Als ein Beispiel von unglaublich vielen sei die Wahl der passenden Kleidung herausgegriffen. Die Varianten reichen von der Badehose zum Weltraumanzug.

Das Gehirn ist das Kapital des Menschen, das - beginnend von der frühkindlichen Erziehung - in einer grossen Variationsbreite entwickelt werden kann. Die Eignung für das spätere Leben hat daher sowohl mit der natürlichen Veranlagung zu tun als auch mit der Förderung aufgrund des Bildungsstandes und der Lebenserfahrung der Altvorderen. In summarischer Betrachtung wachsen Nachkriegsgenerationen daher tendenziell anders heran. Diese Form der Anpassung hat zum Ziel, lebenswidrige Umweltbedingungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Fähigkeit zum vorausschauenden Denken ist hierfür matchentscheidend, denn die Anpassungen müssen zu einem denkbar frühen Zeitpunkt vorgenommen werden und nicht erst, wenn Panzer rollen. Hinsichtlich des Weltklimas verhalten sich die Dinge analog. Der Weg führt stets von der Ursachenforschung zur Problemlösung. Wo dies nicht geschieht, setzt der Mensch seine eigene Existenz aufs Spiel.

Diese Sachverhalte sind einfach und vom Prinzip her unbestritten. Die Meinungen gehen dort auseinander, wo beeinflussende Faktoren ins Spiel geraten, und die Beeinflussung findet auf allen Ebenen statt. Hier seien nur einzelne herausgegriffen: mangelhafte Ausbildung, Behinderung der Ursachenforschung, Verbreitung von Halb- oder Unwahrheiten, Beeinflussung der Meinungsbildung, Unterdrückung von Andersdenkenden, Durchsetzung eines eigenen Weltbildes, religiöser oder politischer Fundamentalismus. Auch dafür gibt es Gründe, doch genau genommen nur einen: das Streben nach Dominanz innerhalb der eigenen Art.

Die Gegenprobe macht das deutlich.

  • Warum werden Kinder verschleppt? Damit sie andernorts mit einem anderen Weltbild herangezogen werden können.
  • Warum werden Kämpfer aus bildungsschwachen Regionen rekrutiert? Damit sie die Denkart ihrer Befehlshaber nicht infrage stellen.
  • Warum finden Hinrichtungen statt? Damit Angst verbreitet- und Andersdenken unterbunden wird.
  • Was ist der Grund für das Wettrüsten? Die Antwort ist bereits gegeben.

Damit steht die Menschheit vor einer Schicksalsentscheidung. Ist sie bereit, wie man in der Schweiz sagt, zusammenzuspannen und die Erkenntnisse der Harmonielehre umzusetzen, oder strebt sie sehenden Auges der Selbstausrottung entgegen? Wir erinnern uns, dass die griechische Göttin Harmonia als Lenkerin eines Wagens vorgestellt wurde, welcher von einem Tiger, einem Greif und einem Stier gezogen wird. Die Fähigkeit des Zusammenspannens unverträglicher Naturen ist ihre Kernkompetenz und wir erfahren auch warum, denn ihr Vater Ares war Gott des Krieges und des blutigen Gemetzels, ihre Mutter Aphrodite, die Göttin der Liebe. So hat man sie selbst als synergetisches Produkt zweier Naturen vorgestellt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. (Abb. in Präsentation XXVII "Didaktische Hilfsmittel" )

Wird der Entscheid bezüglich der Zukunft der Menschheit tatsächlich von allen getroffen oder nur von wenigen Machthabern, denen es an Synergiekompetenz mangelt? Speziell von Autokraten, welche die Macht an sich gerissen haben und die Menschenrechte im eigenen Land missachten, ist die Befähigung hierfür nicht zu erwarten. Wo das Recht des Stärkeren gilt, kann diesbezüglich keine Eignungsprüfung stattfinden. Im Gegenteil: eine Selektion wird in Diktaturen vom falschen Ende her vorgenommen und damit geschieht etwas, das im Wirkungsfeld eines homo sapiens, so er seinem Namen gerecht werden möchte, niemals geschehen dürfte. Hier ist eine seiner Veranlagungen unkontrolliert aus der Bahn geraten und man kann nicht sagen, dass es im Vorfeld keine Hinweise darauf gegeben hätte.    

"Selektion" ungarischer Juden an der Rampe von Auschwitz 1943

In Kriegszeiten war es der innigste Wunsch der Eltern, dass es den Kindern einmal besser ergehen möge. Welche Perspektive bieten sie heute? 

Durch das Wettrüsten wurden Rahmenbedingungen geschaffen, in denen die Ereignisse äusserst rasch ablaufen und es ist nicht zu sehen, dass Selbsterkennnis und Selbstkontrolle damit Schritt halten können. Nach wie vor werden Ursache und Verantwortung in grober Pauschalisierung dem Feind zugeschrieben, nicht jedoch einer gemeinsamen gefahrvollen Prädisposition. Es sei Psychologen und Soziologen vorbehalten, geeignete Fachbegriffe für die verschiedenen Abstufungen und Schweregrade bei Verursachern und Mittläufern zu definieren und die Einfallstore jeglicher Art von Manipulation kenntlich zu machen. Die Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa beschreibt in ihrem Buch How to stand up to a dictator, der Kampf um unsere Zukunft (Quadriga, Köln 2022, S. 330) die Gefahrenlage im Internet, das nicht anders denn als Kriegsschauplatz bezeichnet werden kann. In einem Vortrag vor Studierenden bekannte sie: "Meine Generation ist gescheitert, und wir übergeben euch eine zerbrochene Welt, was bedeutet, dass ihr stärker und klüger sein müsst, als wir es sind." 

Vor dem vorgestellten Hintergrund sind Klugheit und Stärke jedoch nicht die zielführenden Faktoren. Strategen sind auch klug und stark - sehr klug und sehr stark sogar, doch das Erfolgsmodell der Evolution kommt nun an seine Grenzen. Selbstbeherrschung wäre die von den Rahmenbedingungen geforderte Tugend.

Die Aufgabe besteht genau besehen aus zwei Teilen. Der erste Teil verlangt eine Unterlassung, die als solche mit keinerlei Schwierigkeit verbunden ist. Kriege werden durch schlichte Unterlassung verhindert. Der zweite Teil allerdings, die Bedingung, dass dies aufgrund eines kollektiven Konsenses zu geschehen hätte, scheint für die menschliche Spezies eine nahezu unlösbare Aufgabe zu sein. Die Kernaufgabe ist demnach mit den Charaktereigenschaften Harmonias punktgenau beschrieben. Die Tatsache, dass die übermenschliche Befähigung hierzu einer Gottheit zugeschrieben wurde, spiegelt die Lebenserfahrung der Griechen vor mehr als 2500 Jahren - und sie wählten didaktisch wertvolle Bilder: Der Brautwagen von Kadmos und Harmonia soll von einem Löwen und einem Eber gezogen worden sein. Die Verstärkung ihrer Kampfkraft (Aufrüstung) brächte sie der Befähigung, gemeinsam ihre Aufgabe zu erfüllen, kein Stück näher. Allein die Akzeptanz einer höheren Weisung oder pure Einsicht machen das möglich. Das gemeinsame Bündeln der Kräfte ist weitaus wichtiger als das Streben nach Dominanz. In diesem Zusammenhang hat der Begriff Neutralität keinen Platz.         

Demokratien sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, der Macht die Willkür zu nehmen. Damit Einzelne nicht zu Diktatoren werden, wird die Macht auf die Gemeinschaft verteilt, so der Gedanke, und von dort aus nur periodisch und unter strengen Kontrollen verliehen. Nachdem die Ursache gleich einer schlummernden Gefahr in der Disposition jedes Einzelnen liegt (vgl. Menu "Das Fundstück"), stellt der Begriff Neutralität keine brauchbare Handlungsempfehlung für die nachwachsende Generation dar. Vonnöten ist vielmehr, die Schwachstellen des demokratischen Gefüges beständig im Blick zu behalten und mit Zivilcourage überall dort einzuschreiten, wo ihre Stabilität unterwandert wird. Es handelt sich um etwas, das eine zivile Gesellschaft für sich selbst und für niemand anderen tut, um ein Stück Selbstverteidigung im Innern. Dies gilt  für die nationale- wie für die globale Perspektive gleichermassen. So gesehen sind Diktaturen als übelste Zustände der Demokratie beschreibbar. Der Weg zu ihr führt über einen Entwicklungs- und Reifeprozess, nicht über Eroberungen. Weil dieser Prozess auch umkehrbar ist, ist besondere selbstkritische Aufmerksamkeit geboten.

USA: Erstürmung des Kapitols durch einen aufgebrachten Mob 2021

Israel: Proteste zum Schutz der Demokratie 2023

Weil es die Gesellschaft ist, die, um im Bilde zu bleiben, den Wagen in die Zukunft zieht, ist vor allem Synergiekompetenz die ausschlaggebende systemrelevante Befähigung.  

Der beeindruckendste Moment in einer Demokratie ist jener der gewaltfreien Machtübergabe - trotz aller Begehrlichkeiten. Hier zeigt sich der Mensch als Souverän seiner natürlichen Veranlagung. Wahlverlierer, die nicht zur Waffe greifen, geben ein Beispiel für den Vorrang der Synergie gegenüber der Strategie - wohl wissend, dass der Nachteil ein kurzfristiger-, der Vorteil aber ein langfristiger sein wird. 

Demokratie ist ein Instrument zur Schadensbegrenzung menschlichen Fehlverhaltens im Umgang mit Macht, welches in Zusammenschluss mit geeigneten Lebensbedingungen in der Lage ist, synergetisches Zusammenleben zu ermöglichen. 

Glaubwürdig ist eine Demokratie nur dann, wenn im internationalen Kontext derselbe Respekt gegenüber Andersdenkenden deutlich wird, Waffen ausschliesslich der Verteidigung dienen und Selbstkontrolle vor Belehrung steht. Was zählt, ist das nachahmenswerte Beispiel. Die Ausbeutung der Welt durch ein Übermass an Konsum und überhohen Energieverbrauch steht hierzu in Widerspruch und zeichnet ein negatives Bild in der Wahrnehmung des Gegenübers. Über das Ausmass informiert das Global Footprint Network. Zweifellos wäre ein Rollentausch die lehrreichste Massnahme, denn mit ihr erhielte der konfuzianische Grundsatz - welcher in zahlreichen Kulturen mit gleichem Sinngehalt zu finden ist - den längst überfälligen Praxisbezug: "Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu." 

Die positive Sichtweise bleibt wohl wahr: Die Umsetzung des Friedens ist ein jederzeit möglicher Schritt, bedarf es doch nur der Unterlassung von Gewalt. Dem steht allerdings die Realität gegenüber, dass die Rüstungsausgaben weltweit derzeit Rekordwerte erreichen und die Vernichtungseffizienz kaum mehr überboten werden kann. Theorie und Praxis lagen kaum je derart weit auseinander. Der Grund dafür liegt in der Geschwindigkeit, mit der es möglich ist, sich mit Gewalt Macht anzueignen, während es ein sehr langwieriger Prozess ist, für geeignete Lebensbedingungen zu sorgen und jeder Generation Zugang zur Bildung zu verschaffen. Daher kamen die Katastrophen bisher regelmässig vor der Einsicht.

Aus diesem Grunde wäre es grob fahrlässig, darauf zu vertrauen, dass es plötzlich anders kommen könnte und sich die Dinge selbsttätig zum Guten entwickelten. Proaktive Ursachensuche bleibt prioritär - analog zur Ordnung des Tonmaterials anlässlich einer Stimmung. Auch musikalische Harmonie entsteht nicht von alleine. Nur dass man dort vom Ergebnis her zurückrechnet und jedem Intervall jene Individualität und Freiheit einräumt, die ihm im übergeordneten Interesse des Ganzen zuerkannt wird. 

Die konsequente Umsetzung welt-ethischer Werte führte bei vielen Zeitgenossen in Ost und West zu einem bösen Erwachen, denn die Messlatte liegt nicht beim Eigennutz, sondern beim Gemeinwohl. Eintracht und Zwietracht liegen nur einen Handlungsimpuls voneinander entfernt. Damit wären wir wieder bei der Wagenlenkerin: Das Zusammenspannen kann im Idealfall aus Einsicht erfolgen oder aber aufgrund höherer Weisung - sei es von einer Gottheit oder von klugen Staatslenkern. Jedenfalls ist nicht zu hoffen, dass die Natur jenes Problem löst, welches von ihr selbst ins Leben gesetzt wurde.

„Kein menschliches Zusammenleben ohne ein Weltethos der Nationen: kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden der Religionen, kein Friede unter den Religionen ohne Dialog unter den Religionen"  Hans Küng (Projekt Weltethos, Piper, München 1990, S. 171)

Vom Ergebnis her betrachtet: Wenn innerer und äusserer Friede erreicht werden kann, ist der Modus seines Zustandekommens - die Regierungsform - nicht mehr von Belang. Im Gegenteil wäre es begrüssenswert, wenn es mehr als nur einen Weg zu diesem Ziel gäbe, doch leider wurde bis auf den heutigen Tag noch kein solcher Weg gefunden.

VORSICHT! Sich mit Berufung auf "westliche Werte" belehrend vor andere Nationen zu stellen ist ein gefährlicher Beitrag zur Eskalation!

Den Themen Wissen und Bildung ist die Präsentation XXVIII "Bedenkenswertes" gewidmet.

© 2023 Aurelius Belz