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04.12.2020

B31 Die Stammtöne

Grundlage der abendländischen Musiktheorie

 

Aus der Fülle der möglichen Varianten hat sich im Abendland eine Tonfolge herausgebildet, welche als verbindliche Grundlage zum Verständnis der Musiktheorie herangezogen wird. Diese Tonabfolge, welche das Erscheinungsbild einer lateinischen Durchnummerierung aufweist, setzt sich zusammen aus physikalischen Beobachtungen sowie ästhetischen und theologischen Erwägungen.

Die mit * markierten Stammtöne zeichnen sich durch die Besonderheit aus, dass sie ohne Rechenoperation direkt am Monochord aufgefunden werden können, denn es handelt sich um die Grundfrequenz selbst oder um ganzzahlige Vielfache derselben - um Naturtöne also - während sich die Übrigen nur durch Addition oder Subtraktion ermitteln lassen. Dies geschah aus dem Bedürfnis heraus, möglichst gleichförmige Schrittfolgen zu erzielen – vergleichbar etwa mit der Bevorzugung gleichhoher Treppenstufen. Die reine Terz* und die reine Sext* - welche Archytas von Tarent (*435 - †410 v. Chr.) bereits nutzte - wurden aus gleichem Grunde zunächst einmal übergangen und erfuhren eine Wertschätzung erst in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Die 8Stufigkeit ist theologisch begründet und war für die Griechen nicht bedeutsam. Zum katholischen-, d.h. allumfassenden Weltbild, gehörte jedoch die Kongruenz mit den 8 himmlischen Sphären, den 8 Wochentagen gemäss bilbischer Zählung und den 8 Seligkeiten. So erklärt sich die eklatante Unstimmigkeit zwischen der Bezeichnung und der jeweils gemessenen Intervallgrösse.

Spätere Hinzufügungen wie die Chromatik wurden auf eine Weise vorgenommen, dass die Stammtöne als solche unangetastet bleiben- und als Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen herangezogen werden konnten. Daher wurden Zusatzbezeichnungen wie klein, gross, vermindert und übermässig erforderlich. Bereits der Begriff Chromatik zeigt an, dass das ursprüngliche klangliche Erscheinungsbild durch Umfärben nur leicht verändert werden sollte. Aus D wurde Dis oder Des, aus G Gis oder Ges, usw.   

 

Prim*                                                                                                                                                                                                        Solmisationssilbe Do, ursprünglich UT. Mit Prim oder Unisono ist sowohl der Ausgangston selbst als auch das 1. Intervall mit der Grösse Null beschrieben. Die Griechen kannten die Prim nicht, denn sie definierten ein Intervall als Abstand zweier ungleicher Töne. Es handelt sich bei der lateinischen Durchnummerierung um eine frühchristliche Neusortierung mit der Folge, dass alle folgenden Intervallbezeichnungen mit den realen Intervallgrössen nicht übereinstimmen. Das gilt bereits für die Prim selbst, deren Name zwar für die 1 steht, deren Intervallgrösse jedoch Null ist. Ein Ton, welcher mit sich selbst verglichen wird – daher: Unisono – weist grösstmögliche Übereinstimmung mit sich selbst auf. Es handelt sich um eine selbsterzeugte Konsonanz. Die Prim erfuhr grösste Wertschätzung durch Aurelius Augustinus, welcher ausführte, dass nichts einander so ähnlich sei wie die 1 der 1. Er beschrieb sie als Inbegriff totaler Verschmelzung und liebster Liebe. Frequenzverhältnis 1:1

 

Sekund

Solmisationssilbe: Re. Mit Sekund ist der Abstand des zweiten Stammtones zum Ausgangston beschrieben. Ursprung: Pythagoras zugeschrieben. Von einer Oktav werden zwei Quarten in Abzug gebracht, rechnerisch: 2/1x3/4x3/4 = 18/16=9/8. Intervallgrösse: 1 Ganzton. Frequenzverhältnis 9:8

 

Terz

Solmisationssilbe: MI. Intervallgrösse: 2 Ganztonschritte. Frequenzverhältnis 9/8 x 9/8 = 81/64. Ursprung: Pythagoras zugeschrieben. Zum Vergleich: reine Terz* 5/4, Komplementärintervall zur reinen Sext*.

 

Quart*

Solmisationssilbe: Fa. Frequenzverhältnis: 4/3. Ursprung: Direkt am Monochord ermittelt. Intervallgrösse: 2 Ganztonschritte und 1 Halbtonschritt

 

Quint*

Solmisationssilbe: So. Frequenzverhältnis 3/2. Ursprung: Direkt am Monochord ermittelt. Intervallgrösse: 3 Ganztonschritte und 1 Halbtonschritt

 

Sext

Solmisationssilbe: La. Frequenzverhältnis: 27/16. Ursprung: Pythagoras zugeschrieben. Intervallgrösse: 4 Ganztonschritte und 1 Halbtonschritt. Zum Vergleich: reine Sext* 8/5, Komplementärintervall zur reinen Terz*.

 

Septim

Solmisationssilbe: Si. Frequenzverhältnis 243/128. Ursprung: Pythagoras zugeschrieben. Intervallgrösse: 5 Ganztonschritte und ein Halbtonschritt.

 

Oktav*

Solmisationssilbe: Do - Nachträgliche Hinzufügung der Silbe - da nicht zum Johannes-Hymnus gehörig - in bewusster Beziehung zur gleichnamigen Prim - an das A und Ω erinnernd. Aus gleichem Grunde erfolgte die Zuordnung zu den Tonbezeichnungen von C aus, und nicht dem Alphabet folgend, heisst es doch in Off. 22, 13: "Ich [Christus] bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende". Die Griechen verwendeten den Begriff Oktav nicht. Sie nannten das Intervall Diapason, was bedeutet «durch alle Töne». Daraus geht hervor, dass man das Intervall in so viele Teile unterteilen kann, wie man möchte – an der Korrektheit der Bezeichnung ändert sich dadurch nichts – zudem haben wir es mit der Erkenntnis zu tun, dass sich sämtliche Intervalle ausserhalb Oktav oktavversetzt wiederholen und dieses Intervall daher tatsächlich alle Teilungsvarianten umfasst. Aufgrund der beeindruckenden Konsonanz nannte man das Intervall auch Harmonia. Ursprung: Am Monochord ermittelt durch Halbierung der Saitenlänge. Intervallgrösse: 5 Ganztonschritte und 2 Halbtonschritte. Frequenzverhältnis 2:1

 

Schlussbetrachtung

Im Unterschied zum Einmaleins, das als allgemeinverbindliches Regelwerk für den Umgang mit Zahlen angesehen werden kann, haben wir es hier mit einer weltanschaulichen Einflussnahme zu tun, die der abendländischen Musik - wie auch der gesamten abendländischen Kultur inkl.  Zeitrechnung - einen theologischen Stempel aufdrückte. In den Stammtönen sind sowohl zeitlose physikalische Tatsachen enthalten, altgriechische Entdeckungen wie die Frequenzverhältnisse als solche, welche mit Hilfe des Monochords vor 2500 Jahren ans Licht kamen, als auch Neuanordnungen aus ästhetischen Gründen, wie die pythagoreische Tonfolge. Nicht zu übersehen ist darüber hinaus die frühchristliche Neuinterpretation in Anpassung an das damalige Weltbild aus monotheistischer Perspektive. Durch den Symbolbezug erlangte die Musik eine Erhabenheit, welche die Correspondierende Sozietät der musikalischen Wissenschaften, welcher J.S. Bach angehörte, noch gegen den Zeitgeist der Aufklärung zu verteidigen trachtete. (s. Blog C3: "Das Credo Johann Sebastian Bachs in Bild und Ton"). 

Hinsichtlich der Tonfolge hat sich inzwischen einiges getan. Zwar sind die Klaviaturen von C ausgehend nach pythagoreischem Vorbild geschnitten - mit Halbtonschritten zwischen E-F und H-C, doch wurden im hinteren Bereich die chromatischen schwarzen Tasten eingefügt. Auch akustisch bietet sich ein neues Hörerlebnis insofern, als wir es in der temperierten Stimmung mit gleichmässigen Halbtonschritten zu tun haben. Jeder Halbton hat eine Grösse von 100 Cent, die Oktav daher eine Grösse von 1200 Cent. Die akustische Vorführung der ursprünglichen Stammtöne würde ein Umstimmen des Instruments erforderlich machen, und ein Chopin-Prélude in pythagoreischer Stimmung deutlich aufzeigen, dass hier zweierlei Dinge nicht füreinander geschaffen wurden. Das überlieferte Konstrukt ist für Klavier und Orgel mathematisch überarbeitet worden und die Differenz zu den Naturtönen manifestiert sich in den Schwebungen. Bisher an den Rand gedrängt wurden sie nun zur ästhetischen Hauptsache und es erstreckt sich ein gleichmässiges Schwebungsmuster über sämtliche Tonarten. Allein die Prim und die Oktav blieben unangetastet. 

All dies hatte hinsichtlich der symbolischen Interpretation eine Ergänzung zur Folge: 13 Tasten mit nur 12 Tonbezeichnungen stehen für die 13-1 und damit für die Teilnehmer beim letzten Abenmahl minus Judas, die 5 schwarzen Tasten für die 5 Wunden und die 8 diatonischen Tasten für die Auferstehung am 8. Tage. Verrat, Tod und Auferstehung: eine in der Klaviatur verborgene numerische Kurzfassung des Evangeliums. Die konsequente Umsetzung der Neuerungen hätte eine Anpassung der Klaviaturen zur Folge haben müssen und man mag sich fragen, was wohl wichtiger war: das Erinnern an den pythagoreischen Ursprung oder der christliche Symbolbezug. 

Vor dem dargelegten kulturhistorischen Hintergrund wird deutlich, warum Benedikt XVI noch im Jahre 2015 ausführte, dass die Musik "ihren inneren Quellort in der Liturgie" habe. Nach wie vor hält die katholische Kirche an der Musik fest, heisst es doch im 2. Vatikanischen Konzil: "Der Schatz der heiligen Musik muss mit grösster Sorge bewahrt und befördert werden". In jenem in Blog B2 wiedergegebenen Vortrag, gehalten in Castel Gandolfo, stellt er die abendländische Musik jener der anderen Kulturen gegenüber und sieht in ihr gar einen "Wahrheitsbeweis des Christentums". Eine innigere Beziehung eines Papstes zum musikalischen Kunstschaffen ist nicht zu denken. Die Wahrnehmung anderer Kulturen - resp. der Wissenschaft - ist freilich eine andere.

Eine Befreiung vom "Regime der oktavierten Tonräume" wie es Ivan Wyschnegradsky (*1893 - †1979) formulierte, konnte erst mit dem Aufkommen der mikrotonalen Musik stattfinden, die ihrerseits historisch weitreichende Wurzeln hat. Das Archicembalo mit 36 Tasten pro Oktav kündet davon. Nicola Vicentino ersann es im Jahre 1555 und schuf zwei Instrumente. Die Überfülle an neuen schätzenswerten Intervallen musste eines Tages zum Aufbrechen des tradierten Denkmodells führen. 

Das Machtwort: "Roma locuta, causa finita" (Rom hat entschieden, die Angelegenheit ist abgeschlossen) hat seit der Gründung des Pariser Conservatoire 1795 in musikalischen Dingen keine Gültigkeit mehr (s. Blog B27: "Die Befreiung der Musik aus der Umklammerung der Kirche"), was das Pontificio Consiglio della Cultura jedoch nicht davon abhielt, die vorgelegten Forschungsergebnisse im Jahre 2015 als wissenschaftliche Theorie von sich zu weisen und die Publikationszusage der Libreria Editrice Vaticana unbegründet zurückzuziehen. (vgl. Blog B22: "Auf dem Index der Gesellschaft. Über die Ablehnung theologischer Inhalte im abendländischen Tonsystem", ebenso Menu: "Kirchliches Umfeld").

Weitere Einblicke bieten die folgenden Beiträge: - Blog C4: "Pythagoreische Stimmung oder Ursprungsmythos der abendländischen Musik?" - Video-Präsentation XII: "Die Christianisierung des antiken Tonsystems"  - Video-Präsentation XXVII: "Didaktische Hilfsmittel". 

 

Zukunftsperspektive

Seit der Französischen Revolution ist die Absicht erkennbar, von einer symbolischen Interpretation des abendländischen Tonsystems Abstand zu nehmen. Über die Diskussionen bzgl. der Akzeptanz religiöser Symbole in Klassenzimmern wurde bereits berichtet, ebenso über die jüngsten Bemühungen des EDA, das Schweizerkreuz als «Plus für den Frieden» neu zu interpretieren. (s. Menu "Politisches Umfeld").

Handelte es sich früher um den Widerstand gegen Machtanmassung, so steht heute mehr der interkulturelle Dialog im Vordergrund, für den es sich nicht als hilfreich erweist, die eigene Kultur gleich einem Siegesbanner voranzutragen. In diesem Sinne erweisen sich die Ausführungen Benedikt XVI eher als kontraproduktiv. Gleichwohl haben wir eine Geschichte, aus der Lehren gezogen werden müssen. Sie abzulehnen, wäre ein alarmierender Beleg für einen gesellschaftlichen Verfall. (s. Blog B12: "Symbole, Spiegel des Menschen") Das Zensieren wissenschaftlicher Arbeit ist für eine Demokratie brandgefährlich und gegenüber dem kirchlichen Kulturerbe nicht verantwortbar. 

Wollen wir unsere eigene Kultur verstehen, haben wir uns den Bildungshorizont und das Weltbild der Vergangenheit zu vergegenwärtigen und sind aufgefordert, unser interkulturelles Engagement auch diesen-, uns fremd gewordenen Weltbildern gegenüber in Anwendung zu bringen. 

Wie anders könnten wir damit umgehen, wenn wir beispielsweise in den Darlegungen Johann Heinrich Buttstetts (*1666-†1727) ein Kapitel mit der Überschrift finden: „Caput. VI. Beweiset, dass die Musik ewig bleiben wird und dass man dereinst im Himmel mit eben denen Sonis, so hier in der Welt gebräuchlich sind, musiciren werde.“  (Buttstett, J.H., Ut, Mi, Sol, Re Fa, La, Tota Musica et Harmonia Aeterna, Erfurt 1717)

Gerade weil es in der Harmonielehre um die Akzeptanz der Andersdenkenden geht, um das Miteinander und das Zusammenspiel, können wir mit einem sachlichen Umgang unter Beweis stellen, die Botschaft verstanden zu haben. 

© Aurelius Belz 2023