Blog

20.12.2020

B33 Fundstück, Freilegung und Erkenntnis

Während manche Fundstücke an der Oberfläche liegen und nur darauf warten, erkannt und aufgehoben zu werden, bedarf es im Rahmen von Ausgrabungen eines erheblichen Mehraufwands, denn entweder ragt nur ein Teil aus dem Boden, oder aber der Gegenstand liegt in einiger Tiefe. Bei immateriellen Kulturgütern verhält sich das manchmal ganz ähnlich.

Im vorliegenden Fall haben wir es mit einem unerwartet grossen Fundgegenstand zu tun gleich einem Wurzelstock, dessen kräftige Verzweigungen in verschiedene Fachgebiete hineinragen. Ihn unversehrt in voller Grösse zutage zu fördern, erfordert ein Herangehen von verschiedenen Seiten und die volle Grösse und Beschaffenheit offenbart sich erst am Ende aller Bemühungen. 

Die abendländische Harmonielehre ist Bestandteil - um im Bilde zu bleiben: ein Wurzelstrang - des katholischen Weltbildes, in dem schlichtweg alles – sowohl der Mensch als auch seine Umwelt – als Schöpfung Gottes betrachtet wurde: MUSICA DONUM DEI. Dieses Weltbild entstand nicht voraussetzungslos, sondern fusst seinerseits auf den Weltbildern der Ägypter und Griechen. Allen gemeinsam ist die Verortung der Götter im Himmel. Zwar befassen wir uns nach wie vor mit demselben Fundstück, doch befinden wir uns unversehens an anderer Stelle. Für die sichtbaren beweglichen Himmelskörper, die sog. Wandelsterne: Sonne, Mond Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn wurde die Existenz einer jeweils eigenen Sphäre angenommen, während der darüber befindliche Sternenhimmel bewegungslos anmutete und ewig konstant zu bleiben schien. Der ideale Ort für die Lokalisierung eines ewigen Gottes.

Die Verbindung der Zahl 8 mit der Seligkeit ist auf die Beobachtung des Sternenhimmels zurückzuführen – doch ist dies bereits eine sehr späte monotheistische Interpretation, die sich ihrerseits darauf zu beschränken hatte, was mit dem blossen Auge sichtbar war sowie darauf, was man über den Kosmos bis dahin wusste. Man ging davon aus, dass die Erkenntnisse darüber unveränderbar wären.

Da die Bibel (Weish. 11, 21) darüber berichtet, dass Gott alles nach Mass und Zahl erschaffen habe, so geben die 7 Wandelsterne bereits eine Zahl vor, die gleich einer Stufenleiter zur 8 führt und die Zahl 8 als solche erhält besondere Bedeutung. Die Auferstehung am 8. Tage steht damit in Verbindung – wie überhaupt die 8 Wochentage gem. biblischer Zählung und die 8stufige Tonleiter. Zahlreiche Beiträge auf dieser Page befassen sich damit. Das musikalische Äquivalent zum ewig anmutenden Kosmos ist die Konsonanz, welche durch ihre Bewegungslosigkeit, d.h. Schwebungsfreiheit, Erhabenheit und Ruhe ausstrahlt, und speziell an der Orgel mit ihrer konstanten Lautstärke Ewigkeitsanspruch vermittelt.

Grundlage des Weltbildes sind zwei Komponenten: Zum einen die Idee, dass alles auf ein- und denselben Schöpfer zurückzuführen sei, zum anderen die sich daraus zwingend ableitende Annahme, dass auch unvereinbar anmutende Erscheinungsformen auf der Welt etwas miteinander zu tun haben müssten, da sie letztlich doch auf denselben Schöpfer zurückgehen. Nun ging es darum, das auch sichtbar zu machen. Ein vorhandenens Vorbild für dieses Anliegen war Harmonia, die griechische Göttin der Eintracht, denn ihr wurde die Befähigung zugesprochen, unterschiedlichste Naturen zusammenspannen zu können. 

Was sich als verbindendes Element in ideler Weise eignete waren Zahlen, die noch dazu mathematische Gewissheit suggerierten. Doch nicht nur Mathematiker wissen, dass es auf den Umgang mit diesen Zahlen entscheidend ankommt.

Für den Bezug auf den Schöpfer der Welt nachfolgend einige Beispiele:

Die Zeitrechnung ab Christi Geburt (Off.12,16 "Ich bin das A und das der Ω, der Anfang und das Ende.")

Die 8 Tage der Woche gem. biblischer Zählung, beginnend und endend mit dem Tag des Herrn, erinnern an das A und Ω.

Die Prim und die Oktav, beginnend und endend mit der Konsonanz, erinnern ebenso an das A und Ω.

Die Zahl der Monate des Jahres und das Zifferblatt der Uhr in Kongruenz mit der Zahl der Jünger und der 12 Propheten (gem. 12 Prophetenbuch).

Da es aufgrund der Überfülle symbolischer Bezüge leicht möglich ist, sich in Details zu verlieren, ist speziell dieser Beitrag dazu gedacht, das Ganze im Blick zu behalten, wozu wir auf das eingangs erwähnte Bild des Wurzelstocks zurückkommen mit seinen weit reichenden Verästelungen.

Beim ganzen Gebilde handelt es sich um etwas Menschengemachtes, um ein Artefakt, das nicht auf einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse gründet. Daher geriet das katholische Weltbild regelmässig in Konflikt mit unabhängigen Beobachtungen, allen voran mit jenen, welche den Kosmos und den Lauf der Himmelskörper betrafen. Galileo Galilei und Johannes Kepler sind hier zu nennen. Doch ebenso sei an Charles Darwin erinnert, dessen Bestandsaufnahmen mit der biblischen Schöpfungsgeschichte kollidierten.

Erst vor diesem Hintergrund wird erahnbar, welch enormen Stellenwert die Harmonielehre aus theologischer Perspektive hatte und welche Bedeutung damit verbunden war, das von den Griechen mit physikalischem Herangehen erschlossene Tonmaterial in das monotheistische Weltbild zu integrieren - denn Überzeugungsarbeit ist mit Widersprüchen nicht zu leisten.

Diese Massnahme ging nicht ohne handfeste Manipulation vonstatten. Über die Festlegung der Stammtöne in Analogie zur Jakobsleiter - mit dem "C" wie Christus oder "Do" wie Dominus als Ausgangpunkt - und über die Weltgerichtssymbolik des Quintenzirkels berichten andere Beiträge dieser Page. 

Um aus alldem einen Erkenntnisgewinn ableiten zu können ist es erforderlich, der Symbolik und ihrer psychologischen Wirkung auf den Grund zu gehen.

Der Mensch ist in der Lage, Glaubensinhalte anzunehmen und zum Bestandteil seiner Identität werden zu lassen. Mehrenteils geschieht dies aufgrund kindlicher Prägung. Nur so ist erklärlich, warum er durch Symbolschändung – sei es durch das Verbrennen einer Fahne, einer als heilig erachteten Schrift wie dem Koran oder durch Hostienfrevel – seelische Verletzungen erleiden kann. Der Mensch verteidigt seine Identität mit seinem Leben. 

Noch eine andere Komponente kommt ins Spiel. Ginge es allein um Erkenntnisgewinn, würde sich jeder über die Widerlegung einer als überkommen geltenden Ansicht freuen. Doch im Recht zu sein und Recht zu haben gibt den Menschen Macht über andere und diese Macht gilt es, zu verteidigen - auch wider besseres Wissen. Das menschliche Fehlverhalten im Umgang mit Macht in Verbindung mit seinem Bedürfnis, machtausübend im Recht zu sein, ist das mit Abstand grösste Problem der Menschheit. 

Gehen wir die Dinge nach den Prinzipien der Harmonielehre an, können wir damit leben, dass beispielsweise ein gläubiger Katholik in der Hostie und dem Wein etwas anderes zu sehen vermag als ein Lebensmittelchemiker – nach erfolgter Wandlung (Transsubstantiation) den Leib und das Blut Christi nämlich – und dass sich aus der kulturhistorischen Analyse des Tonsystems etwas anderes ergibt als ein "Wahrheitsbeweis des Christentums", wie es Benedikt XVI noch darlegte. Die Diskrepanz - in der Musik die Dissonanz - wird dadurch gewiss nicht geringer.

Die Verwandlung des Blutes Christi in Wein, Ukrainische Ikone, 18. Jahrhundert

Harmonielehre bedeutet im zwischenmenschlichen Bereich, die divergierenden Sichtweisen wertschätzend zuzulassen, weil es die Achtung vor dem Andersdenkenden gebietet. Damit kommt auch die Wissenschaft zu ihrem Recht, unbequeme Wahrheiten über die geistige Verfasstheit des Menschen schonungslos und ungestraft formulieren zu dürfen. Ihrerseits besteht sie auf der korrekten definitionsgemässen Anwendung von Begriffen, im hier vorliegenden Zusammenhang vor allem auf einer klaren Differenzierung zwischen Behauptung, Beweis und Glaube, und bekämpft mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, d.h. gewaltlos, sämtliche Varianten von Fake-News. Sie übernimmt eine wichtige Aufklärungsfunktion in der Gesellschaft. 

Wer sich demgegenüber fundamentalistisch verhält und womöglich mit Waffengewalt nichts anderes als sein eigenes Weltbild durchzusetzen versucht, bremst sowohl die eigene- als auch die gesellschaftliche Entwicklung aus, weil er es nicht zulässt, sein Umfeld wie auch sich selbst aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dabei würde ihm nichts schlimmeres zustossen als eine Erweiterung seines Horizonts. Wahrheit ist eine von Gewalt unabhängige Grösse. 

Dem synergetischen Zusammenwirken äusserst heterogener Faktoren in der Natur wie auch der Ausgewogenheit der Kräfteverhältnisse in unserem Lebensraum haben wir unsere Existenz zu verdanken und setzen sie aufs Spiel, wenn wir die Prinzipien der Harmonielehre unsererseits missachten. Allerdings... 

... jedes Ethos, jeder gute Vorsatz und jede Erkenntnis sind nur so viel wert wie der Grad ihrer Umsetzung

 

Die beschriebenen Sachverhalte wurden vor 220 Jahren in folgende Worte gefasst:

"O ihr unbefleckten Töne, wie so heilig ist eure Freude und euer Schmerz! Denn ihr frohlockt und wehklagt nicht über irgendeine Begebenheit, sondern über das Leben und Sein, und eurer Tränen ist nur die Ewigkeit würdig, deren Tantalus der Mensch ist."

Aus: Jean Paul, Flegeljahre, 2. Band, Kapitel Nro 25. Smaragdfluss, Musik der Musik, Tübingen 1804 

Die Wiederentdeckung des ethischen Gehalts und der christlichen Symbolik der abendländischen Harmonielehre liefert den Kontext für zahlreiche Ausdrucksformen in Kunst und Architektur oder wie hier, in der Literatur. Ein Beispiel aus dem 18. Jdt. findet sich in Blog B31.

 

Doch das Fundstück als Ganzes, wie ist es beschaffen?

 

Es bringt mit wenigen Zahlen Ordnung in die Welt – eine göttliche Ordnung: Ordnung in den Kosmos, Ordnung in die Musik, Ordnung in den Alltag.

Was man aus Sicht der Kirche zum Verständnis der Welt braucht, macht es jedermann zugänglich und schenkt eine seelentröstende Beheimatung. Dazu gehört die Lehre von einer immerwährenden Existenz. Das gibt Sicherheit selbst über den Tod hinaus. Fussend auf den 10 Geboten strebt es nach Frieden und verspricht eine heile Welt, so nicht hier, doch zumindest im Jenseits. Die Härte des Schicksals wird als Prüfung verstanden. In hunderten von Details, biblischen Pflanzennamen, in Brauchtum, Heiligenlegenden, in der Sakralarchitektur, der Liturgie, der Musik und Kunst, begleitet es den Lebensweg. Es ist durch seine zahlreichen Analogiebezüge von schlichter harmonikaler Schönheit. 

Die Argumente der Aufklärung sind demgegenüber bekannt. Rückblickend erscheint das katholische Weltbild wie ein nunmehr restaurierter Gegenstand, dessen Sinn und Zweck neu erfahrbar wird, der jedoch durch Vieles abgelöst und ersetzt wurde, da sich wesentliche Elemente als überholt erwiesen. Das Weltbild ist ein Artefakt, gewachsen über viele Jahrhunderte und hat-, einem Wurzelwerk nicht unähnlich, der abendländischen Kultur länderübergreifenden Zusammenhalt gegeben. Zu seiner dunklen Seite gehören Indoktrination, Zensur und Unterwerfung.

Andere Epochen bewegen sich in der Drift eines anderen Zeitgeistes, andere Kulturen in anderen Weltbildern. Im Spiegel des Gegenübers lassen sich die eigenen Vorstellungen klarer und kritischer betrachten. Die Wissenschaft nutzt diesen Effekt, denn ihr Wachstum vollzieht sich durch Widerlegung. Neue Erkenntnisse werden begrüsst und nicht bekämpft, während Weltbilder die Tendenz haben - wie es der Name bereits nahe legt - starr und unbeweglich zu sein. 

 

© Aurelius Belz 2023