Wissenschafts-Blog

31.01.1980

A3 Gesellenzeit inkl. Volontariat in der Pianofortefabrik Wilhelm Schimmel in Braunschweig

Zivildienst und Gesellenzeit

 

Nachdem im Süddeutschen Rehabilitationswerk für erwachsene Blinde - heute: Berufsförderungswerk Veitshöchheim - eine Ausbildungsstätte für blinde Klavierstimmer geschaffen worden war und es gelang, den renommierten Klavierbaumeister und Konzertstimmer Emil Olbrich als Ausbilder zu gewinnen, eröffneten sich fachliche und berufliche Perspektiven über den Zivildienst hinaus.

Das Berufsförderungswerk Veitshöchheim 

Die Zusammenarbeit mit Emil Olbrich war verbunden mit einer akustischen Neuentdeckung der Instrumente, sei es, dass er sich mit historischen Stimmungen befasste, d.h. mit der Vorgeschichte der gleichschwebend-temperierten Stimmung oder mit dem Einfluss der Inharmonizität auf das Schwebungsverhalten der Teiltöne. Es galt, neue didaktische Konzepte zu erarbeiten und die theoretischen Grundagen in der Praxis umzusetzen, wofür auch neues blindengerechtes Werkzeug zu entwickeln war. In seiner eigenen Werkstatt widmete sich Emil Olbrich Intasienarbeiten nach Art von David Roentgen.

 

Emil Olbrich (links) und Josef Meingast - letzterer über 40 Jahre hinweg Betriebsleiter der Firma J.C.Neupert in Bamberg - im Fachgespräch über die neu entwickelte Intonierzange anlässlich der Musikmesse in Frankfurt.

Meinen beiden hoch geschätzten Ausbildern ist die Dissertation: Das Instrument der Dame. Bemalte Kielklaviere aus drei Jahrhunderten gewidmet. 

 

Arbeiten im Werksmuseum und in der Flügelproduktion

 

1984 wurde der Verfasser damit beauftragt, zwei Instrumente für das Werksmuseum der Firma Wilhelm Schimmel in Braunschweig herzustellen. Es handelte sich um ein bundfreies Clavichord sowie einen Hammerflügel nach Johann Heinrich Silbermann (*1727-1799). Heute sind die Rahmenbedingungen kaum mehr zu verstehen, welche nachfolgend ein wenig beleuchtet werden sollen:

In der Fachschule für Musikinstrumentenbau Ludwigsburg wurde das Fach Spezielle Fachkunde – in dem, wie man annehmen möchte, klavierhistorisches Spezialwissen vermittelt werden sollte –  denkbar stiefmütterlich behandelt und die bedeutende fremdsprachliche Fachliteratur überhaupt nicht einbezogen. Die Inhalte beschränkten sich auf einen Streifzug durch die Architekturgeschichte, angefangen beim Bau der Pyramiden, um einen Begriff von den Stilepochen zu erhalten. In die vorgestellte Chronologie wurden mehr und mehr musikhistorische Elemente eingeflochten, jedoch nicht mehr, als man in Lexika finden konnte. Eine Exkursion zur Sammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg rundete die Sache ab. In den 70er und 80er Jahren war die Ausbildungsqualität in diesem Bereich nahe dem Nullpunkt, so dass sogar die Meisterprüfung im Cembalo- und Klavierbauerhandwerk aufgrund ihrer Angepasstheit an die Bedürfnisse der Industrie nicht einmal mehr als Zulassungsvoraussetzung für die Ausbildung zum Restaurator anerkannt wurde, und dieser Schritt hatte seine Berechtigung. Im einjährigen Meisterkurs wurden Arbeitsblätter identischen Inhalts verteilt wie in der Lehrzeit. Aus diesem Grunde verzichtete der Verfasser auf die Entgegennahme eines Zeugnisses, denn die Meisterprüfung als solche wurde von der Handwerkskammer abgenommen. Interessierte hatten sich eigene Wege zu bahnen, andernorts weiterzubilden und die Nähe zur Wissenschaft zu suchen. Das wiederum führte später zu einem Engagement hinsichtlich der Verbesserung der Ausbildung über einen Dialog mit Restauratoren an der Fachschule - s. Blog A11.

Die hemdsärmelige Einstellung "Wir können das auch!" war der Grund für traurige Eingriffe in den historischen Instrumentenbestand und offenbarte sich ebenso in der Vorstellung, problemlos Kopien historischer Instrumente für ein eigenes Firmenmuseum anfertigen zu können, in dem spielbare Instrumente vorgestellt werden sollten. Selbstverständlich ging es dabei um Marketing.

Zunächst finanzierte Nikolaus Schimmel 1981 die Wiederauflage des Buches von Franz Josef Hirt: Meisterwerke des Klavierbaus. In seiner Vorrede schreibt er: "In jedem Fall fühlt sich Schimmel den Traditionen des europäischen, im besonderen Masse den Überlieferungen des deutschen Klavierbaues und solchen aus der eigenen Firmengeschichte verpflichtet."  In einem einzigen Satz justiert er somit den Fokus auf das eigene Unternehmen. Es liegt in der Natur der Wirtschaft, dass jenes Unternehmen, welches Finanzmittel zur Verfügung stellt, auch eigene Interessen verwirklichen will. In der Folge wurde im ehemaligen Betriebsgebäude an der Hamburger Strasse gleich neben der Ausbildungsstätte für die schreinerische Gundausbildung eine sog. Restaurierungswerkstatt eingerichtet.

 

Ehem. Werksgebäude der Pianofortefabrik W.Schimmel an der Hamburger Strasse, Braunschweig

Der tröstliche Vorteil der geplanten Nachbauten war immerhin der, dass man Erfahrung sammeln konnte, ohne Originalbestand zu gefährden. So entstand das Clavichord nach einer Zeichnung des Germanischen Nationalmuseums, ohne das Original erneut vermessen zu müssen. Der Materialauswahl schenkte man jedoch keine besondere Aufmerksamkeit und so war schlicht zu verwenden, was am Lager war.

Anlässlich der Kopie des Hammerflügels ging man noch einen Schritt weiter, denn diese entstand ohne Zeichnung nach einem Besuch im Berliner Musikinstrumentenmuseum. Gemeinsam mit Matthias König - heute für die Pianofortefabrik Bechstein tätig - dem als Klavierbaumeister die Aufgabe eines Supervisors zukam, wurden die nötigen Masse genommen, welche zusammen mit ein paar Fotos zu genügen hatten. Erst später sollte sich herausstellen, dass die Intention eigentlich war, den berühmten Hammerflügel von Gottfried Silbermann aus dem ehem. Potsdamer Stadtschloss zu kopieren und im Rahmen eines TV-dokumentierten Konzerteinsatzes als Werbemittel einzuetzen. 

Hammerflügel von Gottfried Silbermann, heute im Neuen Palais Potsdam 

Allein die Kenntnisse über die Familie Silbermann waren derart lückenhaft, dass es zu einer Verwechslung Gottfrieds mit dessen Strassburger Neffen Johann Heinrich kam. Als die Sache aufflog, waren wesentliche Teile des Instrumentenkorpus bereits fertiggestellt, für den wiederum das vorhandene Material im Lager Verwendung finden musste, hier: Messerreste aus der Furnierherstellung, d.h. Massivholz-Kernbretter von amerikanischem Nussbaum. Das allein war mehr als bestürzend, denn dem Original sieht man auf den ersten Blick an, dass auf Zarge und Kämpfer Maserblätter deutschen oder französischen Nussbaums mit Spiegelfuge zusammengesetzt wurden (s. Abb. im Menu: Instrumente)  Nicht auszudenken, wie der Flügel Gottfried Silbermanns in diesem hölzernen Gewand gewirkt hätte.

Geichwohl, einen Flügel ohne Zeichnung herzustellen war eine Herausforderung für sich, und nachdem die Instrumentenmacher früherer Epochen auch nicht nach Zeichnung arbeiteten, wähnte man sich ein wenig auf traditionsreichen Pfaden, wenn auch gänzlich moderne Werkzeugmaschinen zum Einsatz kamen. Allein die Rekonstruktion der Resonanzbodenrosetten machte darauf aufmerksam, dass solchen Objekten eine völlig andere Geisteshaltung zugrunde gelegen haben musste. Die Anfertigung der Scharniere stellte eine Herausforderung für sich dar, ebenso das Anfertigen der geschnitzten Beine. Man hatte die historisch vorgegebenen Massstäbe gewaltig unterschätzt und niemand war in Reichweite, der mit solchen Dingen Erfahrung hatte. Hinzu kam der gesetzte Zeitrahmen, denn in Jahresfrist sollten beide Instrumente fertiggestellt sein und die Termine für die TV- Präsentationen waren bereits festgelegt worden. Aus diesem Grunde wurden gegen Ende mehr und mehr helfende Hände hinzugezogen.

Unter den gegebenen Rahmenbedingungen gelang die Herstellung einer funktionierenden und belastbaren Mechanik nicht zufriedenstellend, und so hatte Werner Albrecht - heute ebenfalls für die Pianofortefabrik Bechstein tätig - die Aufgabe, sich die nötigen Kenntnisse in der Restaurierungswerkstatt des Berliner Musikinstrumentenmuseums bei Horst Rase anzueignen und die Arbeiten dort abzuschliessen. Ein spezielles Problem war der Einsatz von Pergament inkl. der notwendigen Entfettung, um eine haltbare Verleimung sicherstellen zu können. Während Gottfried Silbermann Achsen für die Hämmer verwendete, entschied sich Johann Heinrich für Pergamentgelenke, welche einer hohen Beanspruchung ausgesetzt sind. Nach Fertigstellung war das Instrument aus genannten Gründen für die geplanten Marketingeinsätze nicht nutzbar, denn es fehlte ihm schlicht an Prominenz. Der Protest der Mitarbeiter gegen die Rahmenbedingungen für derartige Aufgaben ist mit Bleistift auf der Unterseite des Clavichord-Resonanzbodens dokumentiert worden. Allein bezüglich der Werkzeug- und Materialausstattung galten schon damals gänzlich andere Massstäbe. Wo noch niemals historische Instrumente angefertigt wurden, kann man auf nichts zurückgreifen und muss zweckdienliche Vorrichtungen zuerst einmal erfinden und in Anpassung an den vorhandenen Werkzeugbestand selbst herstellen - z.B. für die Kannelierungen der gedrechselten Clavichordbeine.

Angesichts des unübersehbaren Weiterbildungsbedarfs regte der Verfasser dazu an, mit einer Gruppe interessierter Mitarbeiter auf eigene Kosten einen erfahrenen pensionierten Polierer der Firma Seiler aus Kitzingen anreisen zu lassen, um eine Einweisung in die Grundlagen der Schellackpolitur zu erhalten. Die Einführung fand am Wochenende in einem Gemeindehaus statt.  

Alfons Graf beim Anpolieren eines eingespannten Probebrettes

Die Arbeitsgruppe um Alfons Graf, v.r. Markus Hübner und Werner Abrecht 

Bei all dem, aus heutiger Sicht geradezu schildbürgerlichem Vorgehen, verhält es sich nicht so, dass es an Kontakten zu Wissenschaftlern gemangelt hätte, doch scheinen diese eher des Prestiges wegen eingeladen worden zu sein.Trotz zahlreicher Werkstattbesichtigungen hat sich offenbar niemand genau angesehen, was geschieht, denn es wäre mehr als gerechtfertigt gewesen, die Stoptaste zu drücken. Das allerdings hätte auch einen Stop für die Firmenphilosophie bedeutet, derzufolge alles machbar schien, und in lebendiger Erinnerung sind die oft wiederholten Worte des Betriebsleiters Gerhard Schwichtenberg anlässlich von Führungen durch die sog. Restaurierungswerkstatt: "Die Besten Europas". Bereits beim ersten Telefonkontakt mit dem Museum hätte die Frage der Bedeutung des Flügels geklärt werden können: «Nein, wir haben nicht jenen Flügel, auf dem J.S. Bach vor Friedrich dem Grossen spielte.» Darum allein war es gegangen, um den Glanz berühmter Namen: Silbermann, Bach und Friedrich II ! Unabhängig davon stellt sich die Frage, welchen Wert eine solche Marketing-Massnahme für speziell dieses Unternehmen gehabt hätte. Gegenüber jenen Herstellern, welche in der Anfertigung historischer Instrumente Erfahrung hatten, hat sich das Unternehmen dauerhaft diskreditiert und nicht wenige Besucher und Kunden haben mit höflichem Stillschweigen darüber hinweggesehen.  

Zweiffellos hatte die Idee mit einem konkreten Anlass zu tun, denn zum 100jährigen Betriebsjubiläum 1985 wurde die Broschüre "Vom Musikstab zum Pianoforte" herausgegeben, ein Jahr später folgte "Das Handbuch der Tasteninstrumente" von Günther Batel mit einigen Abbildungen des Clavichords und des Hammerflügels. Der Flügel erhielt sogar eine repräsentative Doppelseite für sich, doch ein schriftlicher Kommentar zu Sinn und Zweck fehlt - aus dem einfachen Grund, weil dergleichen nicht vorhanden war. Werbemittel haben anderen Anforderungen zu genügen und die Wissenschaft wird dafür schon mal gerne instrumentalisiert und deren Prekariat ausgenutzt. 

Zum Kontext der Entstehung gehört, dass die Firma Schimmel im Vorjahr rund 10.000 Klaviere und Flügel produziert- und Udo Jürgens samt Rauchglasflügel auf das Jungfraujoch geflogen hatte. Ohne diesen Hype, der die Belegschaft miterfasste und der vielen noch heute in Erinnerung ist, wäre solch eine traumtänzerische Selbstüberschätzung undenkbar gewesen. «Traumtänzer» war denn auch der Titel jenes Songs, den Udo Jürgens in den Schweizer Bergen zu Gehör brachte.

Udo Jürgens mit Glasflügel auf dem Jungfraujoch
Link zum official Video

Nun verhält es sich allerdings nicht so, dass jene Kopie, die mit Johann Heinrich Silbermann nicht wirklich etwas zu tun hat, international ohne Beachtung geblieben wäre. Jahrzehnte später fuhr ein kanadischer Kollege mit dem Verfasser zu einem musikwissenschaftlichen Symposium und fragte ihn unvermittelt, ob er nicht zufällig wisse, welcher Idiot denn den Flügel für das Werksmuseum der Firma Schimmel hergestellt habe … und die Antwort war: «Der lenkt gerade dieses Fahrzeug».  

 

Der zweite Teil des Volontariats umfasste den Durchlauf sämtlicher Arbeitsschritte der Flügelproduktion

 

Produktionsanlage der Pianofortefabrik W.Schimmel an der Friedrich-Seele-Str.20, Braunschweig 

Bis zu 42 Pianos und 7 Flügel am Tag - 10.000 Tasteninstrumente pro Jahr - das war die Produktionskapazität der Firma Schimmel im Jahr 1982. Auf den einzelnen Arbeitsgang bezogen bedeutet das, dass er täglich ebensooft stattzufinden hat und dass es zum Wie und Warum keine Fragen mehr geben darf. Dementsprechend sind die Arbeitschritte in überschaubare Segmente zerlegt, die jedes für sich problemlos und rasch von angelernten Fachkräften bewältigt werden können. In der Mehrzahl handelte es sich um die Montage und Justierung vorgefertigter Teile. Im Rahmen des Volontariates wurden sämtliche Arbeitsgänge der Flügelproduktion durchlaufen und durch häufiges Wiederholen trainiert. Als Generalprobe zur Meisterprüfung entstand während der Betriebsferien ein Flügel unter Prüfungsbedingungen. Das Meisterstück als solches hatte dann nichts Unerwartetes mehr an sich. 

Die Summe der Arbeiten führte erst zum Überblick und der Austausch mit Kollegen auch aus anderen Firmen brachte weiteren Zugewinn - insbesondere für die Bühne, wo das Instrument als Ganzes verstanden werden muss, um das Bestmögliche aus ihm herauszuholen. 

 © Aurelius Belz 2021